Editorial

«Game over» für die Musikindustrie


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/21

     

Dass die Musikindustrie unter galoppierendem Realitätsverlust leidet und vielleicht sogar in einem paradoxen Paralleluniversum existiert, dieser Verdacht drängt sich mir schon länger auf. Statt die eigenen Kunden mit qualitativ hochwertigen Produkten, kompetitiven Angeboten und anderen Kaufanreizen zu hofieren, zieht man es offensichtlich vor, uns zu beschimpfen, zu bedrohen, zu schikanieren und am besten noch zu bestrafen.







Als wäre ein die CD-Qualität mindernder Kopierschutz nicht schon mühsam genug, wenn man die legal und für schlicht übertriebene knapp 30 Franken erworbene Musik auf seinen mobilen Musikplayer transferieren will, hat
das Major-Label Sony BMG seinen Produkten für den US-amerikanischen Markt ein Rootkit beigelegt (Seite 7). Erschreckend ist dabei nicht nur, dass
es acht Monate dauert, bis ein Sicherheitsexperte zufällig über Sony BMGs «Erfindung» stolpert, nein, es fehlt beim Musikkonzern auch jegliches Unrechtsbewusstsein, obwohl er in Ländern wie Deutschland damit glatt den Tatbestand der Computersabotage erfüllen würde. Dies kommt angesichts
der hochtrabenden Pseudo-Moral der Major Labels und ihrer Lobby-Verbände
wie der IFPI (International Federation of the Phonographic Industry) bezüglich «Raubkopierern» einer brutalen Blutgrätsche von hinten in den Kunden gleich – im Fussball fliegt dafür jeder Spieler sofort vom Platz.






Ebenso tragisch und letztlich unverständlich ist das Verhalten der bereits erwähnten IFPI. Mit viel Brimborium bläst man in der Schweiz zur Jagd auf jeden Filesharer (Seite 9). Damit betreibt man Symptombekämpfung, statt Zeit, Energie und Geld in den Ausbau und die Weiterentwicklung von innovativen Konzepten wie iTunes Musik Store zu investieren, mit denen sich – wie die Erfahrung zeigt – Filesharing-Anwender durchaus aus der Grauzone und der (Halb-)Illegalität herausziehen lassen.

Die Musikindustrie investiert ihr Geld aber offensichtlich lieber in den letztlich sinnlosen Versuch, ihre Businessmodelle aus den Zeiten der Vinyl-Schallplatten mit Hilfe des Staats vor dem World Wide Web zu schützen.
Die Internet-Vervielfältigung von digitalen Inhalten per Kopierschutz und Urheberrecht zu verhindern, kommt einem vor, wie wenn die Pferdekutscher Anfang des letzten Jahrhunderts durchgesetzt hätten, dass mit motorbetriebenen Fahrzeugen keine Waren transportiert werden dürfen.




Es bleibt darum zu hoffen, dass sich die Schweizer Strafverfolgungsbehörden trotz veränderter gesetzlicher Rahmenbedingungen nicht einfach zum Handlanger der Medienkonzerne machen lassen, sondern nur bei extremen Fällen einschreiten. Denn das Filesharing ist eine Grundfunktion des Internets. Diese zu unterbinden, bremst sowohl die technologische wie
auch die wirtschaftliche Entwicklung.




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