Suns Web-Plattform: Infrastruktur total
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/02
Sun ist eine Hardware-Company. Der Hersteller wird jedenfalls meistens so wahrgenommen, und auch CEO Scott McNealy verkündete kürzlich in einem Interview, seine Firma habe gar keine Softwares-Strategie. Vielmehr verfolge man eine "Systemstrategie" und wolle den Kunden, vor allem Service-Providern und Grossunternehmen, ein fertig geschnürtes Kombipaket aus Hardware- und Softwarekomponenten anbieten.
Das Sun-Gesamtangebot setzt sich zusammen aus Servern (Sparc), Betriebssystem (Solaris), Basissoftware (Java samt Java-2-Enterprise-Plattform), Clustering,
Storage sowie einer kompletten Software-Infrastruktur fürs E-Business (iPlanet).
Dazu soll in Kürze eine neue Softwareplattform zur Entwicklung von Web-Services mit Namen "Brazil" kommen, die bisher in einer Vorabversion für Entwickler erhältlich ist und laut Branchengerüchten am 5. Februar anlässlich eines Analysten-Meetings offiziell der Weltöffentlichkeit präsentiert wird.
Auch Sun setzt also wie Microsoft mit der .Net-Plattform voll auf die Maxime "Software als Dienstleistung".
Offenbar hat Sun also doch erhebliche Softwaregelüste. Kein Wunder - mit Hardware allein macht man heute keinen Staat mehr. Im Gegensatz zu den schwindenden Hardware-Margen versprechen die Umsätze bei E-Commerce-orientierter Software eine goldene Zukunft. Und Suns Software-Ambitionen sind nicht neu: Die Firma verkündet seit zehn Jahren, das Netzwerk sei der Computer, und hat mit Jini bereits einmal einen technologisch hochinteressanten, in kommerzieller Hinsicht allerdings wenig bedeutenden Anlauf für vernetzte Softwarenutzung auf Geräten aller Art gemacht. Nicht zuletzt stammt auch die Programmiersprache Java und die Java-Softwarearchitektur aus Suns Entwickler-Küche, die sich in Form der Java 2 Plattform Enterprise Edition (J2EE) inzwischen bei den High-End-E-Commerce-Paketen aller namhaften Hersteller als Standard etabliert hat.
Neben Java bilden die iPlanet-Produkte die Softwarebasis für das Sun-Komplettangebot. Es handelt sich dabei um ein umfassendes Angebot von Server- und Middleware-Paketen, die den gesamten Bedarf der Net Economy befriedigen, wie der Hersteller anmerkt. Unter dem Label iPlanet sind Produkte für drei Anwendungsbereiche erhältlich:
E-Commerce-Anwendungen für B2C- und B2B-Handel, Zahlungsverkehr, Beschaffung und weitere Handelsformen, zusammengefasst als "iPlanet Commerce Services Platform" und früher teilweise in der Produktelinie "Netscape CommerceXpert" verfügbar.
E-Commerce-Infrastrukturkomponenten wie Applikationsserver, Portalserver, Integrationsserver und Directory-Server. Es handelt sich teilweise um ehemalige Netscape-Produkte; wesentliche Komponenten wie der XML-basierte Integrationsserver stammen dagegen von der Sun-Seite - er hiess in den früheren Versionen "Forte Fusion".
Infrastrukturkomponenten für Service Provider, darunter Web- und Messaging-Server, ebenfalls aus Produkten der Netscape-Küche hervorgegangen. Auch der Portalserver ist in einer speziellen Ausgabe für ISPs erhältlich.
Hersteller der iPlanet-Produkte ist jedoch nicht etwa Sun selbst, sondern eine Allianz von Sun und Netscape beziehungsweise AOL, die unter dem Namen "iPlanet E-Commerce Solutions" figuriert. Sie bietet als Ergänzung zur iPlanet-Produktepalette auch gleich die passenden Dienstleistungen zu deren optimaler Nutzung an. Pascal Sahli, General Manager der Schweizer iPlanet-Repräsentanz, legt darauf grossen Wert: "Zuständig für die iPlanet-Plattform ist die Sun-Netscape-Allianz. Sun als Firma führt einfach, wie andere Distributoren auch, die Produkte in der Preisliste und verkauft sie." Einer dieser Distributoren ist die GCS AG (www.gcs.ch), die traditionell die Netscape-Produkte verkaufte und nun auch die iPlanet-Linie im Angebot führt.
In Sachen Mitbewerber beweist die Sun-Netscape-Allianz ein gesundes Selbstbewusstsein. Frank Issing, Product Marketing Manager bei iPlanet Deutschland, positioniert das Angebot wie folgt: "Wenn man unser komplettes Angebot betrachtet, also die Infrastruktur und die Commerce und Professional Services, dann gibt es ausser allenfalls IBM kaum ein Unternehmen mit einem derart umfassenden Portfolio. Das ist unser herausragendes Merkmal - Unternehmen suchen ja in der Regel nicht nur eine 'Point Solution', sondern wollen sich ganzheitlich auf E-Business ausrichten. Dabei spielen Themen wie Integration, Collaboration und Anbindung bestehender Systeme eine grosse Rolle".
Das iPlanet-Angebot richtet sich ganz klar an Grossunternehmen und Service Provider. Zitat aus der iPlanet-Website: "Die iPlanet-Plattform ist eine offene, skalierbare Software-Infrastruktur, die auf Basis der herkömmlichen Netzwerke und Betriebssysteme Service-Providern und Grossunternehmen ermöglicht, erfolgreich in der Net Economy zu bestehen". iPlanet betont zudem seine neutrale Rolle als "Enabler", der selbst keine Konkurrenz für seine Kunden darstellt.
Dazu Frank Issing: "iPlanet sieht sich als Technologielieferant für Service-Provider und Unternehmen, die sich in der Net Economy erfolgreich behaupten wollen. Wir konkurrieren nicht mit unseren Partnern, sondern konzentrieren uns auf die Bereitstellung der Internet Service Deployment Platform und der Commerce Services und arbeiten partnerschaftlich mit unseren Kunden zusammen."
Kleine und mittlere Unternehmen profitieren von der iPlanet-Funktionalität entweder via Service Provider oder, indem sie ein Portal nutzen, das auf iPlanet-Basis arbeitet. Ein Schweizer Paradebeispiel ist das KMU-Portal Plenaxx, das mit Hilfe verschiedener iPlanet-Komponenten realisiert wurde und Firmen der KMU-Klasse den schmerzlosen Einstieg ins E-Business ermöglichen will.
Wer ausserdem als Privatnutzer die Möglichkeiten des iPlanet-Portalservers erkunden will, braucht nur die derzeit heftig beworbene Orangeworld-Website zu besuchen: Das Telekommunikationsunternehmen hat für sein Kundenportal ebenfalls die iPlanet-Technologie gewählt.
Eines der aktuellsten Buzzwords der IT-Szene: Web-Services. Software soll künftig nicht mehr durch den Anwender als Paket gekauft und auf jedem PC, PDA oder sonstigen Internet-Zugangsgerät vom Tablet-PC bis zur Mikrowelle installiert, sondern via Netz als Dienstleistung bezogen werden. Erste zaghafte Angebote in dieser Richtung sind Börsenkurse und Wetterberichte, die regelmässig automatisch aufs Handy geliefert werden.
Etwas weiter geht die "Software zur Miete" im ASP-Verfahren, bei der mit jeder Nutzung die Software auf dem Server abläuft und der PC nur noch als Thin Client die Eingabe- und Anzeigefunktionen übernimmt.
Ein wesentlicher Teil der künftigen Web-Services dürfte überdies nicht direkt durch den Endanwender genutzt, sondern von anderen Web-basierten Anwendungen als integraler Bestandteil übernommen werden. Ein Beispiel dafür wäre ein Kreditkarten-Validationsdienst eines Service-Anbieters, der sich als Web-Service nahtlos in den Online-Shop eines anderen Anbieters einfügt.
Damit dieses Zukunftsmodell zum Tragen kommt, ist ausser einem allgegenwärtigen Internet mit hoher Bandbreite auch eine entsprechende Software-Architektur samt zugehörigen Entwicklungstools nötig. Mehrere Mitbewerber haben entsprechende Konzepte, Tools und Services schon bereit: HP und IBM liefern seit längerem einzelne Web-Service-Komponenten; Microsoft hat letzten Sommer ihre .Net-Strategie angekündigt und sie mit den .Net-Servern, dem SOAP Toolkit und einem Internet-Explorer-Plug-in in einer ersten Stufe in die Realität umgesetzt. Und auch Oracle hat mit dem Dynamic Services Framework klare Absichten in Richtung Web-Services.
Sun will hier natürlich nicht in der zweiten Reihe stehen und wird sich demnächst, so vermutet man, anlässlich eines Analysten-Meetings als wichtiger Software-Player positionieren.
Zu Suns Vision der IT-Zukunft gehört neben der Serverseite, die durch die Sun-eigene Hardware und die iPlanet-Produkte abgedeckt ist, als Kernstück ein Toolkit für Software-Entwickler, bisher unter dem Codenamen "Brazil" bekannt und seit August 2000 in einer Vorabversion auf der Sun-Website verfügbar. Man erwartet, dass "Brazil" im Zentrum der Sun-Ankündigungen vom 5. Februar stehen wird.
"Brazil" bietet laut Sun "eine Web-basierte Infrastruktur, die Menschen auf sichere Weise mit Informationen, Computern und anderen Geräten in Verbindung bringt und dazu existierende Standards und Protokolle nutzt".
Kurz gesagt, ist "Brazil" ein Toolkit zum Erstellen von Web-Applikationen der nächsten Generation". Pikanterweise sagt der "Brazil"-Chefarchitekt Stephen Uhler, er wisse selbst nicht genau, wie solche Web-Applikationen genau aussehen würden, er sei aber sicher, dass das "Brazil"-Toolkit bei deren Aufbau von Nutzen sei.
Seinen Ursprung hat das Projekt in einer URL-basierten Schnittstelle für Smartcards, mit der per Web-Browser auf den Smartcard-Inhalt zugegriffen werden kann. Die Ingenieure der Sun Labs haben bald erkannt, dass sich der dazu entwickelte Java-Code auch generell für den Web-Zugriff auf beliebige Anwendungen und Geräte anpassen lässt.
In ihrer aktuell vorliegenden Version präsentiert sich die "Brazil"-Technologie mit einigen charakteristischen Merkmalen: Die Grundlage bildet ein Toolkit, bestehend aus einer Vielzahl von wiederverwendbaren Softwarekomponenten.
Kleinere Anwendungen lassen sich damit sehr einfach aufbauen. Grössere Anwendungen werden aus kleineren auf standardisierte Art zusammengesetzt. Fixe Strukturen wie ein Dateisystem gibt es dabei nicht.
Die Implementation von "Brazil" fusst voll und ganz auf Java-Technologie; sie umfasst Server- und Request-Objekte, Handler und Properties. "Brazil" unterstützt zudem weitere technologische Errungenschaften von Sun wie Java Messaging Services (JMS), Jini und Java Reliable Multicast Service (JRMS).
Die "Brazil"-Architektur erlaubt den Aufbau von extrem kleinen Web-Applikationen ebenso wie die Konstruktion von Anwendungen der Enterprise-Klasse: Als so genannter Micro-Server dient eine "Brazil"-Implementation der Web-Anbindung von einfachen Geräten mit den simpelsten Grundfunktionen. Als Meta-Server ist "Brazil" der Mechanismus, der Inhalte aus den verschiedensten Quellen zusammenfügt, umwandelt und integriert.
Eine typische "Brazil"-Anwendung kombiniert Daten und Funktionen, die über das gesamte Internet verteilt sein können, einheitlich auf der Oberfläche des jeweiligen Clients: "Brazil"-generierte Inhalte können sich bei identischem Informationsgehalt dem Look&Feel chamäleonartig der Zielplattform anpassen, unabhängig von ihrer ursprünglichen Darstellung - eine ideale Voraussetzung für die Wiederverwendung von bestehenden Inhalten als Web-Services.
Wie sich "Brazil" auf dem Markt durchsetzen wird, wird die Zukunft weisen. Einerseits hatte Sun mit bisherigen Software-Initiativen wie Jini nicht gerade rasenden Erfolg, und es besteht bereits starke Konkurrenz aus der Microsoft-Ecke - .Net wird sich mit einiger Sicherheit stark auf dem Markt ausbreiten.
Microsoft hat offenbar keine Angst vor "Brazil". Man ist überzeugt, dass der .Net-Idee dauerhafter Erfolg beschieden ist: "Software ist kein Marketingtool, um Hardware zu verkaufen. Mit Software und Dienstleistungen rund um die dritte Generation des Internet kann man die Entwickler nur auf Basis einer fokussierten, langfristigen Strategie überzeugen. Was die Entwickler darüber hinaus an .Net begeistert, sind insbesondere offene Standards wie XML und SOAP, die Unterstützung mehrerer Entwicklungssprachen sowie zeitgemässe Entwicklungstools."
Auf der anderen Seite steckt auch Microsofts .Net-Plattform noch absolut in den Kinderschuhen. Dagegen hat sich die Java-Technologie mittlerweile in der Welt der Applikationsserver und E-Business-Pakete als stabiler und leistungsfähiger Standard
etabliert.