Die Microsoft-freie IT-Abteilung
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/29
Das Fazit vorweg: Eine komplett Open-Source-basierte IT-Infrastruktur ist technisch und organisatorisch durchaus denkbar, was zahlreiche mit Erfolg realisierte Projekte beweisen. Anders ausgedrückt: Entweder man ist OSS gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt, oder es herrscht ungetrübte Begeisterung. Die Szenerie erinnert etwas an die Diskussion zwischen Mac- und PC-Anhängern.
Aber: Nach wie vor herrscht, vor allem in der Privatwirtschaft, erhebliche Skepsis gegenüber freier Software; die Anwendergemeinde ist im Vergleich zur unter kommerziellen Lizenzen vertriebenen Software klein und konzentriert sich stark auf akademische und behördliche Kreise. Oft wird OSS auch ausschliesslich serverseitig eingesetzt; die Clients laufen weiterhin unter Windows.
Auch auf der Consulting-Seite herrscht punkto OSS in der Schweiz eine interessante Konzentration: Alle befragten Open-Source-Kenner, vom spezialisierten Redaktionskollegen bis zu Vertretern der Schweizer Linux-Usergroup, verwiesen für weitere Informationen und Referenzen sofort auf die Dübendorfer Firma SFI, deren Gründer Peter Stevens hierzulande regelrecht als Eminenz in Sachen Linux und OSS gilt. Die ganz auf OSS orientierte SFI hat eine Vielzahl von OSS-Projekten in schweizerischen und deutschen Behörden, aber auch in diversen KMU realisiert und bietet mit ihren auch von Dell vertriebenen Infrappliance-Produkten eine Reihe von idiotensicheren Server-Appliances auf Lintel-Basis an.
Auf den Open-Source-Geschmack ist SFI aufgrund einer eingehenden Marktbeobachtung gekommen, wie Peter Stevens anmerkt: "Unsere Wurzeln lagen in der proprietären Unix-Welt. Schon 1997 war es uns aber klar, dass Unix-Workstations keine grosse Zukunft hatten - Windows hatte den Desktop erobert und war mit NT 3.5 auf dem Weg in den Serverraum. Gleichzeitig erschien Linux auf unserem Radarschirm: Es vereinbart die Vorteile von Unix (Flexibilität, Zuverlässigkeit, Offenheit) mit denen der Wintel-Welt (günstige Hardware und Software, mehrere Anbieter)."
Andere Systemhäuser wie beispielsweise Zühlke Engineering setzen ebenfalls auf OSS, meist jedoch nur in Teilbereichen und vor allem auch für die hausinterne Entwicklung - kein Wunder, laufen doch massgebliche Teile der Internet-Basisarchitektur wie bind und sendmail ebenso unter einer Open-Source-Lizenz wie der meistverbreitete HTTP-Server Apache oder gcc, auf manchen Plattformen der C-/C++-Compiler mit kanonischem Status.
Die Open-Source-Anhänger führen stets mit Überzeugung eine ganze Reihe von Argumenten für ihre Bevorzugung des Open-Source-Modells an, so zum Beispiel Andrej Vckovski von Netcetera und Rudolf Bahr, Referatsleiter im deutschen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik BSI, das dieser Tage mit diversen OSS-Migrationen von sich reden macht:
guter Support durch die Entwickler- und Anwendergemeinde;
keine unzugängliche "Black Box", sondern die jederzeitige Möglichkeit, anhand des offenen Source-Code Fehler zu korrigieren und Funktionalitäten zu überprüfen;
Einhaltung von Standards und offenen Schnittstellen;
Modularisierung: Unter mehreren Programmen lässt sich das bestgeeignete und günstigste aussuchen und mit anderen kombinieren;
vorteilhaftes Lizenzierungsmodell, klar kalkulierbare Lage bezüglich Kosten und Lizenzen;
Sicherheit durch umfassende Prüfung bei Anwendern und Entwicklern;
Qualität durch grosse Entwicklergemeinde, sofortige Fehlerkorrekturen und permanente Weiterentwicklung.
Support, Sicherheit und Qualität sind auf der anderen Seite just die Punkte, die OSS-Skeptiker oft ins Feld führen: Wie kann man auf ein Produkt vertrauen, für das nicht ein klar definierter Hersteller, sondern eine sich im ständigen Wechsel befindende Entwicklergruppe verantwortlich ist? Was geschieht, wenn plötzlich keiner mehr Lust hat, das OSS-Projekt X weiterzuführen? Wer ist für den Support und für Problemfälle zuständig - es gibt keinen Hersteller, den man haftbar machen kann.
Die Befürworter des OSS-Einsatzes vermerken, eben gerade die grosse Entwicklergemeinde garantiere Softwarequalität und Support: Die Hauptentwickler jedes OSS-Projekts seien namentlich bekannt, per E-Mail erreichbar und sehr empfänglich für Kritik und Verbesserungsvorschläge. Ausserdem könne auf Basis des offen zugänglichen Source-Code jeder Anwender problemlos seine eigenen Korrekturen und Verbesserungen anbringen.
Verantwortlichkeitsprobleme sehen OSS-Adepten eher bei den proprietären Produkten: Was passiert mit der Software, wenn der Hersteller Pleite macht oder von einer anderen Firma mit konkurrierendem Produktportefeuille aufgekauft wird? So sieht es auch Wolfgang Korosec, Leiter Technologie- und Informationsmanagement an der ETH Zürich: "Die zur Zeit eher beängstigende finanzielle Lage der meisten kommerziellen CMS-Anbieter war ebenfalls ein Einflussfaktor" - die ETH hat sich kürzlich für die Einführung eines Content-Management-Systems auf Basis des OSS-Appservers Zope entschieden.
Der permanente Konflikt zwischen dem US-amerikanischen Justizministerium und dem Hersteller des meistverbreiteten Betriebssystems schlägt sich auch in der EU und besonders bei unseren nördlichen Nachbarn nieder. Rudolf Bahr findet deutliche Worte auf die Frage, ob neben OSS auch andere Szenarien oder der Verbleib beim Monopolisten evaluiert worden seien: "Die Gründe für die Migration lagen im wesentlichen in der unsicheren Situation hinsichtlich der zukünftigen, schlecht kalkulierbaren Kosten durch die neue Lizenzpolitik und dem künftigen Support einiger Produkte der Firma Microsoft. Die generelle Zielvorgabe des deutschen Bundesinnenministers ist es, die Abhängigkeit von dem marktbeherrschenden Unternehmen Microsoft zu verringern. Eine andere Zielvorgabe, übrigens im Einklang mit der EU, ist die Förderung von freier oder Open-Source-Software. Das ist auch insofern logisch, als es nicht sonderlich zweckvoll erscheint, eine proprietäre Lösung durch eine andere zu ersetzen."
Dr. Heinz Frei, IT-Leiter bei Elektro-Material, einem an sieben Standorten mit 400 Mitarbeitern operierenden KMU, betreibt seine Infrastruktur auf der Serverseite seit dem Jahr 2000 auf Linux-Basis. Für die Handelsapplikation und die Bereiche Finanz- und Rechnungswesen kommen seit Jahren AS/400-Systeme zum Einsatz. Als es 1999 um die Vernetzung von 40 PCs ging, wählte die Firma statt der von den meisten beigezogenen Consultern empfohlene kostspielige Variante mit sechs Metaframe-Servern eine OSS-basierte Lösung. Unter Linux laufen heute Logon-, File- und Printserver, Mail- und Intranetserver, der Datenbankserver für das Vertriebsinformationssystem sowie ein Middlewareserver für die Übermittlung von Bestellungen zwischen AS/400- und NT-basierten Systemen. Auf dem Desktop kommt Open Source noch nicht zum Zug, da laut Frei "das Management und die Mitarbeiter sich an Word und Excel gewöhnt haben - ein Umstieg ist kaum möglich. Wenn aber Microsoft mit ihrer Lizenzpolitik die Benutzer weiter verärgert und zu MS Office äquivalente OSS-Produkte auf den Markt kommen, wird sich das eventuell ändern."
Wie die Praxis zeigt, eignet sich OSS je nach Einsatzgebiet mehr oder weniger gut - nicht aus prinzipiellen Gründen, mehr aus politischen und gewohnheitsmässigen. Peter Stevens: "Open Source wird vor allem in den Basistechnologien proprietäre Produkte vertreiben: Betriebssystem, Netzwerk, File- und Print-Services, E-Mail, Webserver und Browser, Office, beschränkt auch Datenbanken. Kurz: diejenigen Teile der Infrastruktur, die jede Firma als Grundbedürfnis kennt. Der Applikationsbereich ist eher für proprietäre Lösungen bestimmt" - entweder werde der gesamte Aufwand für die Erstellung einer kundenspezifischen Applikation vom Auftraggeber bezahlt, oder die Entwicklungsinvestitionen müssten durch Verkaufserlöse amortisiert werden, was mit OSS eher schwierig sei. Auch Wolfgang Korosec sieht OSS-Defizite im applikatorischen Bereich: "Es sind vor allem die grossen betriebswirtschaftlichen Applikationen - an SAP kommen zum Beispiel nur wenige Unternehmen vorbei." Dies trifft auch auf verbreitete ERP-Systeme im KMU-Bereich zu, wie die OSS-Firma SFI in der Praxis erfahren musste: "SFI hat einen Windows- und zehn Linux-Arbeitsplätze. Den Windows-Arbeitsplatz gibt es nur, weil Sesam nicht unter Linux zur Verfügung steht; der Aufwand, Sesam zu ersetzen, wäre zur Zeit unverhältnismässig", führt Stevens aus.
Rudolf Bahr dagegen findet, "prinzipiell eignet sich freie Software in allen IT-Bereichen. Im Serverbereich bietet sie besondere Vorteile, weil der Ressourcenfresser Grafikoberfläche nicht installiert werden muss." Im Gegensatz zu einer konsolengesteuerten Linux-Installation kann ein Windows-Server gar nicht ohne GUI laufen. Die Schulungskosten für ein OSS-Office-Paket wie OpenOffice seien etwa die gleichen wie bei einem proprietären Paket; ähnliches gelte für den Support. Dagegen fielen die Lizenzkosten bei freier Software dauerhaft weg, und Umstellungskosten gebe es nur einmal anlässlich der Migration. Aber: "Bei der Umstellung grösserer Behörden" - analoges dürfte auch für Unternehmen gelten - "kann es ratsam sein, die Migration in zwei Schritten vorzunehmen: zuerst die Server, nach der Konsolidierung dann die Clients."
Offene Pendenzen zeigt OSS bei transaktionsorientierten Datenbanken. Zwar stehen, zum Beispiel mit MySQL, durchaus leistungsfähige SQL-Datenbankengines bereit; die Datenbank-Workhorses der Enterprise-Klasse bleiben jedoch als proprietäre Software dem traditionellen Lizenzmodell verhaftet: Nicht jedes "Linux-fähige" Produkt ist Open-Source-Software. Beispiele sind die Linux-Versionen von DB2 und Oracle, von den Herstellern mit Kampagnen wie "Unbreakable Linux" propagiert. Diese Datenbanken der Oberklasse laufen zwar auf dem OSS-Betriebssystem, sind aber vom Vertriebsmodell her als konventionelle Softwarepakete zu betrachten.
Die Ressourcenfreundlichkeit von Linux schwindet jäh dahin, wenn zusätzlich zum Basissystem eine Grafikoberfläche installiert wird - dies zeigt auch die eigene Erfahrung: Auf einem mit 64 Megabyte ausgestatteten PC belegt schon ein Suse-Linux mit KDE fast den gesamten verfügbaren Realspeicher. Lässt man dazu nur schon eine Anwendung laufen, beginnt das System mit reger, der Performance nicht eben dienlicher Paging-Aktivität. Ohne GUI will heute aber kein Office-Anwender mehr arbeiten. Bahr: "Hier sind Benutzer tätig, die keine ausgesprochenen Fachleute sind. Das muss man akzeptieren; schliesslich ist nicht jeder Fernsehzuschauer auch Elektroniker. Eine Grafikoberfläche und die Möglichkeit, Ikonen mit der Maus anzuklicken, sind im Bürobereich ein unbedingtes Muss."
Für den Endanwender verwirrend ist auch die nach wie vor nicht entschiedene Schlacht zwischen KDE und Gnome: Für Linux-Systeme stehen damit gleich zwei unterschiedliche GUI-Varianten zur Verfügung. Nicht alle Applikationen laufen unter beiden Oberflächen; in jedem Fall sind jeweils unterschiedliche Varianten zu installieren. Zusammen mit der Vielzahl von Linux-Distributionen und der OSS-typischen permanenten Weiterentwicklung des Kernels, der parallel in verschiedenen Versionen zu haben ist, resultiert eine Betriebssystem-Landschaft, die zumindest bei Evaluation, Installation und Support nicht ohne Fachkräfte auskommt.
Rudolf Bahr bringt einen nur auf den ersten Blick exotischen Aspekt in die Diskussion: "Im Spielebereich bietet proprietäre Software derzeit noch klare Vorteile." Den Game-Bereich muss man, so Bahr, sehr wichtig nehmen: "Games bringen die Hersteller von Sound- und Grafikkarten dazu, entsprechende Treiber zu entwickeln. Vor allem bei Laptops kann es von Monat zu Monat wechselnde Hardware geben, für die zwar meist bald auch Linux-Treiber zur Verfügung stehen, was aber klarerweise immer etwas dauert." Gute Sound- und Grafiktreiber sind aber nicht bloss beim Gamen wichtig; sie kommen auch der Performance der grafischen Oberfläche überhaupt entgegen.
Nachteile sieht Bahr zudem in der Koexistenz mit Windows-Clients und bei Groupware: "Die Schwierigkeiten, Dokumente im kaum beschriebenen, proprietären .DOC-Format zu verarbeiten, sind durch OpenOffice zumindest soweit gelöst, dass dem Austausch von Schriftstücken keine allzu grossen Hindernisse entgegenstehen. Aber Groupwarefunktionalität in heterogenen Umgebungen zu realisieren, macht noch grosse Schwierigkeiten."
An der ETH läuft derzeit unter der Federführung von Wolfgang Korosec ein OSS-Projekt fürs Web-Content-Management, laut Korosec "eines von vielen ETH-Projekten, bei denen OSS eingesetzt wird". Nach einer relativ aufwendigen Evaluation habe man sich für Zope als CMS-Applikationsserver entschieden; auf dieser Basis wird die CMS-Applikation Silva laufen. Gleichzeitig ist die ETH an der Evaluation eines Editors, mit dem der Benutzer dank den XML- und XSLT-Möglichkeiten der modernen Browser IE und Mozilla die Inhalte direkt auf einer Webseite editieren kann, was HTML-Know-how und Investitionen in clientseitige Web-Editoren einspart. Im Fadenkreuz der Evaluatoren stehen zum Beispiel Produkte wie Xopus, das auch die NZZ benutzt, und Bitflux Editor.
Zudem in der Print-Ausgabe: Immer wieder ein Reizthema: Application Server und Beispiel: Bundesamt für Veterinärwesen