Urs Binder: Zugang für alle im World Wide Web

Wie zu schmale Lifttüren dem Rollstuhlfahrer den physischen Zugang zu Gebäuden verunmöglichen, setzen viele Websites behinderten Benutzern Steine in den Weg zum intellektuellen Genuss.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/40

     

Beim letzten morgendlichen Räkeln spitzten sich mir heute unweigerlich die Ohren. In der Konsumentensendung des Schweizer Radio-Ersten war einmal mehr vom "Internet" die Rede. Diesmal ging es aber nicht um schlechten Providerservice, überhöhte Access-Gebühren oder jugendgefährdenden Content. Am Pranger standen vielmehr Webseiten, die sehbehinderten Benutzern das Leben unnötig erschweren.


Geniale Hilfe oder neue Barrieren?

Das Internet, insbesondere E-Mail und Web, wälzt die Weltgesellschaft um wie wenige Technologien zuvor. Noch nie war es einfacher, an Informationen zu kommen und sekundenschnell weltweit zu kommunizieren.



Von den Entwicklungen der Informationstechnologie profitieren insbesondere auch behinderte Menschen - schon wer temporär bettlägrig ist, weiss die Bequemlichkeit des weltweiten Datennetzes rasch zu schätzen, und geistige Riesen mit körperlichen Unzulänglichkeiten wie Stephen Hawking könnten ohne technologische Hilfsmittel ihr Genie kaum entfalten.




Wie zu schmale Lifttüren dem Rollstuhlfahrer den physischen Zugang zu Gebäuden verunmöglichen, setzen viele Websites behinderten Benutzern Steine in den Weg zum intellektuellen Genuss. Und wie in der realen Welt handelt es sich auch im Cyberspace oft um leicht korrigierbare Unterlassungssünden, die zudem meist aus mangelnder Kenntnis resultieren. Das Paradebeispiel vernachlässigter Surfer sind Sehbehinderte und Blinde: Als computerzentriertes Medium setzt das Web in erster Linie auf visuelle Darstellung am Bildschirm.




Das behinderte Hilfsmittel

Als Remedur für diesen unabänderlichen Grundsatz kennt der Blinde den sogenannten Screen Reader: Eine Software, die den Inhalt der Website in Form von synthetisierter Sprache oder Braille-Schrift ausgibt. Der Screen Reader kann aber nur interpretieren, was vorhanden ist - und hier hapert es bei vielen Webseiten, egal ob von Hand erstellt oder aus dem Content-Management-System generiert.



Simpler HTML-Text lässt sich am besten umsetzen. Der aber wird immer seltener: Die seit den Urzeiten des Web astronomisch gestiegenen ästhetischen Ansprüche bringen mit sich, dass Webseiten immer mehr aus grafischen Nettigkeiten zusammengesetzt sind, die dem Auge schmeicheln sollen. Damit aber weiss der Screen Reader nichts anzufangen: Ein Bild kann noch so schön sein; ohne zusätzliche Beschreibung in Textform ist die Software nicht in der Lage, den Bildinhalt jemandem verständlich zu machen, der nicht sehen kann. Analoges gilt für Animationen, Videofilme sowie, besonders wichtig, für unzulänglich beschriftete Grafikbuttons, schönschriftliche Titel im GIF-Format und verwirrlich benannte Formularelemente.




Abhilfe ist einfach, wird aber von Site-Betreibern und Webdesignern oftmals vergessen: Jedes nicht-textliche Element muss mit einer zusätzlichen Beschreibung in Textform ausgestattet werden. Für Bilder gibt es dazu gleich zwei mögliche Zusatzattribute: Mit ALT kann eine kurze, mit LONGDESC eine längere Beschreibung eingefügt werden, die der Screen Reader dankend entgegennimmt. Wenn jedoch unter ALT bloss der Filename der Grafik steht, zum Beispiel "x23.gif", bringt das dem Surfer wenig. Ebenso nutzlos sind übrigens nichtssagende Hyperlinks vom Typ "hier klicken".




W3C und Zugang für alle

In den USA gibt es ein Gesetz namens Rehabilitation Act. Darin findet sich die Section 508, die Bundesstellen Kauf, Entwicklung, Unterhalt und Gebrauch von Informationstechnologie, die von Behinderten nicht genutzt werden kann, schlicht und einfach verbietet. Wie behindertengerechte Technologie im Hinblich auf das Web aussehen sollte, wird vom Worldwide Web Consortium W3C definiert, das dazu die Web Accessibility Initiative unterhält und verschiedenste Publikationen zum Thema anbietet - notabene in schnörkelloser, Screen-Reader-freundlicher Form.




In der Schweiz ist die Sensibilität in diesem Punkt weniger ausgeprägt. Damit sich dies baldmöglichst ändert, wurde die Organisation "Zugang für alle" ins Leben gerufen. Unter www.zugang-fuer-alle.ch finden sich neben allgemeinen Informationen über Ziele und Aktivitäten der Organisation auch Tips zum Erstellen zugänglicher Webseiten - lesens- und befolgenswert, denn die behindertengerechte Präsentation der Webinhalte ist kein gütiges Almosen an bemitleidenswerte Benachteiligte, sondern eine schlichte Selbstverständlichkeit, die dem Minimum an Anstand entspricht.



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