Urs Binder: Macht CRM den Kunden zum König?
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/26
Letzthin hatte ich das Vergnügen, einer Tagung des Informatikerverbands SwissICT über Customer Relationship Management beizuwohnen. Präsidentin des Verbands ist übrigens die liberale Nationalrätin Lalive d'Epinay, die als Kunsthistorikerin, Germanistin und Anglistin erfreulicherweise keine IT-Eingeborene ist und der Organisation einen etwas weiteren Horizont verschaffen dürfte als ein Hardcore-Ingenieur an der Spitze.
Customer Relationship Management ist unter dem Kürzel CRM derzeit einer der heissesten Modebegriffe im IT-Jargon. Vom Thema ist der Websurfer in besonderem Masse betroffen, denn immer mehr Firmen lagern einen guten Teil ihrer Informations- und Supportaktivitäten ins Internet aus und nutzen zur Beantwortung der kundenseitigen Fragen allerlei Bleeding-
Edge-Technologien wie natursprachlich abfragbare Agenten mit künstlicher Intelligenz - das nennt man dann "e-CRM" im Gegensatz zum klassischen CRM, das schon mit einer besseren Adressverwaltung beginnt.
Wenn eines an der Tagung klar herauskam, ist es dies: Eine CRM-Implementation ist nicht mit der Installation eines herstellerseitig entsprechend angepriesenen Programmpakets erledigt - von besseren Adressverwaltungen bis zu komplexen E-Business-Suiten segeln nur zu viele Applikationen heute unter der CRM-Flagge. Eigentlich ist die zum Einsatz kommende Software so ziemlich das Unwichtigste an einem CRM-Projekt.
CRM bedingt ein radikales Umdenken im gesamten Unternehmen. Das geht nicht ohne aktives Sponsoring durch das oberste Management und auch nicht ohne gründliche Reorganisation: Statt wie bisher funktionsorientiert - Marketing, Verkauf, Support -, arbeitet das CRM-konforme Unternehmen prozessorientiert und zieht den gesamten Lebenszyklus eines Kunden vom ersten Kontakt via Massenmailing bis zur After-Sales-Betreuung in einem Faden durch.
Im Fokus aller Unternehmensaktivitäten, so auch der Untertitel des SwissICT-Events, steht inskünftig der Kunde. Und der sei heute schwierig: "Die Gesellschaft für Konsumforschung hat herausgefunden, dass Konsumenten am liebsten von Menschen bedient werden, die aber möglichst so schnell sind wie Computer. Gleichzeitig möchten sie persönlich behandelt werden, aber der Verkäufer sollte am besten nichts über den Kunden wissen". Soweit das Dilemma des modernen Unternehmers.
Der Kunde soll also im Zentrum stehen - aber war das eigentlich nicht schon immer so und ist ob des rasanten Wachstums und der grassierenden Massenproduktion von Gütern und Dienstleistungen bloss vergessen gegangen? Meine Lieblingsfrau, Tante Emma, wusste ja noch bestens, was ihre Kunden wollten. Sie hatte zugegebenermassen aber auch den Vorteil eines überschaubaren Kundenstamms und des durchgängig persönlichen Kontakts. Sowohl die Konsumgüterindustrie als auch die Dienstleistungskonzerne haben es da im einundzwanzigsten Jahrhundert schon einiges schwieriger - bestes Beispiel sind die Telcos, die als Zauberlehrlinge das Abrakadabra des Mobilfunks ausgerufen haben und jetzt mit den Abermillionen neuer Kunden fertig werden müssen, die noch dazu meistens gleich mehrfach in den verschiedensten IT-Systemen gepflegt werden müssen.
Blitzlösungen wie der Beizug von Call-Centern, in denen nahezu ungeschulte, mit den Produkten völlig unerfahrene Agents anhand von schludrig nachgeführten Supportdatenbanken die Kunden eher vergraulen als sie der CRM-Philoshopie gemäss zu umgarnen, sind in höchstem Mass kontraproduktiv. Ins gleiche Kapitel gehen Marketingaktionen, die überhaupt nicht mit dem Rest des Unternehmens koordiniert sind - wer als glücklicher Besitzer eines Produkts innert vier Tagen drei Mailings mit der Einladung erhält, eben dieses Produkt käuflich zu erwerben, wird bald einmal an der Kompetenz des bisher vermeintlichen Qualitätsanbieters zweifeln.
Deshalb: Unternehmer, hört die Signale! Pflegt Eure erfahrenen Mitarbeiter, auf dass sie Euch und Eurem Kunden erhalten bleiben. Nehmt die Kunden mit ihren Anliegen wirklich ernst und redet nicht nur davon. Dann, und nur dann, hilft ein CRM-System bei der Zähmung der Kundenflut und des IT-Chaos.