Longhorn werden die Hörner gestutzt
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/17
Fahrplanwechsel bei Longhorn: Um den angepeilten Release-Termin im Jahr 2006 halten zu können, hat Microsoft die Notbremse gezogen und die Feature-Pläne für das nächste Windows-Betriebssystem kräftig umgekrempelt. Dabei wird WinFS, der objektorientierte, auf SQL-Server-Technologie basierte Datenspeicher auf der Strecke bleiben und frühestens ein Jahr nach dem Longhorn-Release nachgereicht. Um zusätzlich Zeit einsparen zu können, wollen die Redmonder Longhorn nun nicht mehr auf einer eigenen Codebasis, sondern auf den Code von Windows Server 2003 mit Service Pack 1 aufbauen. Neu in Microsofts Roadmap ist zudem, dass bisher exklusiv für Longhorn geplante Komponenten wie WinFX (Superset des .Net Framework), Avalon (neue GUI-Technologie) und Indigo (auf SOA ausgerichteter Kommunikations-Stack) ab 2006 auch für Windows XP und Windows Server 2003 verfügbar werden.
Dass Microsoft bei Longhorn zurückbuchstabieren muss, kommt nicht ganz überraschend: Die jüngsten Verschiebungen bei den Service Packs für Windows XP und Windows Server 2003 sowie beim .Net Framework 2.0, Visual Studio 2005 und SQL Server 2005 liessen bereits Vermutungen zu, dass die Redmonder – falls sie nicht erneut massive Zeitverschiebungen in Kauf nehmen wollten – nicht darum herum kommen würden, Longhorn die Hörner zu stutzen. Denn ein Release im Jahr 2007 oder gar erst 2008 hätte nicht nur für Microsofts Kasse, sondern auch für deren künftige Produktstrategie fatale Folgen gehabt. An Longhorn gekoppelte Produkte wie beispielsweise Office 12 wären von der Verschiebung ebenfalls betroffen gewesen.
Dass es mit WinFS das attraktivste der neuen Longhorn-Features trifft, ist zwar schade, aber logisch. WinFS hätte zwar die Basis für neuartige Longhorn-Killerapplikationen mit intelligentem Datenmanagement gelegt. Dementsprechend war das WinFS-Projekt aber auch von Anfang an sehr ambitiös und hätte von den Applikationsentwicklern einen grossen Aufwand beim Softwaredesign verlangt. Das Fehlen von WinFS mag zwar Schmerzen bereiten, hat aber auch Vorteile: Entwickler haben nun mehr Zeit, sich auf den neuen Datenspeicher vorzubereiten, und können sich stärker auf die übrigen neuen Technologien konzentrieren. Die gewonnene Zeit dürfte nicht zuletzt einen reibungsloseren Übergang in die WinFS-Welt zur Folge haben.
Positiv zu werten ist die Verfügbarkeit von WinFX, Avalon und Indigo für die heutigen Windows-Plattformen: Weil bereits eine grosse installierte Basis vorhanden ist, können Entwickler die für Longhorn versprochene Technologie bereits viel früher adaptieren, als dies bei der bisherigen Longhorn-only-Variante der Fall gewesen wäre. Da Firmen beim Upgrade von Client-Betriebssystemen zurückhaltend geworden sind, wird es wohl bis 2008 dauern, bis sich eine attraktive Longhorn-Basis gebildet hat. Bleibt zu hoffen, dass die Portierung dieser Technologien keine allzu grossen Einbussen bei den ursprünglich geplanten Features zur Folge haben wird.
Nachdem von den drei Longhorn-Key-Komponenten nun eine (WinFS) gänzlich fehlen und zwei (Avalon, Indigo) auch für Windows XP und 2003 verfügbar sein werden, stellt sich natürlich die Frage, was Longhorn eigentlich Neues zu bieten hat, um einen Upgrade zu rechtfertigen. Eine Fancy-Oberfläche (Aero), das neue Treibermodell und die umstrittene Sicherheitsarchitektur (Palladium) werden kaum ausreichen, um Firmen von einem Umstieg von Windows XP auf Longhorn überzeugen zu können. Microsoft wird sich in den kommenden Monaten noch einiges einfallen lassen müssen, damit Longhorn nicht zum Shorthorn verkommt, das niemand braucht.
Alles in allem hat das nächste Windows mit den Planänderungen seinen revolutionären Charakter eingebüsst. Der Übergang ins Longhorn-Zeitalter wird nicht mit einem Paukenschlag beginnen, dafür aber sanfter und reibungsloser ausfallen als ursprünglich zu erwarten war.