Zwischen Inselwelt und Allzweckkleber

Wegen seiner Flexibilität verwenden Anwender Excel häufig, um Schwachstellen im ERP-System zu umgehen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/16

     

Eigentlich liegen alle Studien zur Frage nach dem weltweiten Marktführer für ERP-Syteme (Enterprise Resource Planning) falsch: Die weltweit meistgebrauchte Business Software heisst Excel. Dabei haftet Excel der Ruch des anarchischen an: Nicht das IT-Management, sondern die Anwender entscheiden über den Einsatz. Im Rahmen der ERP-Zufriedenheitsstudie wird die Nutzung von Excel quasi als Massschnur für die Güte einer Installation erfasst. Im Folgenden soll dem Phänomen «Excel» ein wenig auf die Spur gegangen werden.


Excel-lente Inselwelten

Excel-Sheets finden sich heute an allen Ecken und Enden einer Organisation. Sind Anwender nicht in der Lage, ihre Arbeitsaufgaben mit Hilfe der «offiziellen» ERP-Software zu lösen und – und hierin liegt die erste Krux – werden sie von der IT-Abteilung mit ihren Problemen nicht ernst genommen, kreiert man doch einfach ein Excel-Sheet. Ursprünglich war Excel in aller Regel ein «persönliches Arbeitsmittel» und wurde – ganz ISO-konform – auch als solches gekennzeichnet.
Mit der zunehmenden Verbreitung von Office-Kenntnissen kam es dann zu einer immer grösseren Verteilung von Excel im Unternehmen. Excel-Programme wurden im Unternehmen und zwischen Unternehmen hin und her gereicht und kontinuierlich weiterentwickelt. Das Ergebnis sind quasi «excel-lente Inselwelten», auf denen sich die Bewohner – sorry: die Bediener – wohl fühlen; schliesslich befindet sich die Insel ja in Privatbesitz und ist vor den Blicken anderer Abteilungen und solch ungeliebter Grössen wie dem unternehmensinternen Controlling abgeschirmt.
Nur, für die unternehmerische Infrastruktur sind gerade diese Inselwelten häufig von grosser Bedeutung. Mit Excel werden kritische Prozesse individuell gesteuert. Mit Excel werden etwa ganze Fertigungsbereiche gesteuert, die Fehlteile für wichtige Arbeitsschritte getrackt oder die Kostenkalkulation für eine grosse Anlage berechnet. Die Anwendungsfelder im Unternehmen sind dabei praktisch beliebig, gehen weit über die klassischen von ERP beherrschten Territorien hinaus.





Typische Prozesslandschaft und möglicher Excel-Einsatz


Kitt zwischen Systemwelten

In vielen Fällen besitzen Excel-Sheets auch für Kunden und Lieferanten eine grosse Attraktivität. So werden sie im Handel als Hilfsmittel zum Datentransfer von ganzen Artikelsortimenten und Preislisten genutzt. Klassische Zulieferunternehmen managen mit Excel die Bestellabrufe ihrer Kunden oder matchen die Kunden-Varianten-Nummern mit den internen Produktnummern. Excel ist an vielen Stellen quasi wie ein Allzweckkleber, der Kitt zwischen unzureichend funktionierenden oder schlecht integrierten ERP-Funktionen und –Systemen.
Excel selbst kommt dabei eine Eigenschaft zugute, den die offizielle Systemlandschaft kaum bietet: Excel ist nicht träge und man kann die Sheets schnell und ohne lange auf die Schützenhilfe von der internen IT-Entwicklungsabteilung warten zu müssen an die sich ändernden Anforderungen anpassen. Excel erlaubt es also, die viel beschworene «Dynamik des Marktes» besser zu beherrschen. Gleichzeitig sind Excel-Sheets in aller Regel «lean», das heisst, sie sind ausschliesslich auf die konkreten Bedürfnisse angepasst und vergleichsweise einfach zu bedienen.


Ein System, das jeder versteht

Der Umstand der einfachen Bedienbarkeit und die gleichzeitige Tatsache, dass Excel von ein und derselben Person entwickelt und bedient werden kann, ist eine der grossen Stärken der Applikation. Häufig kann man dabei feststellen, dass die einfache Darstellung in Form von Tabellen gerade für komplexere Datenzusammenhänge übersichtlicher ist als die Verteilung von Informationen über zahlreiche Bildschirmmasken, wie sie noch heute bei vielen ERP-Systemen üblich ist.
Gleichzeitig haftet Excel etwas durchaus anarchisches an. In wohl kaum einem Unternehmen, in dem Excel im Sinne einer ERP-Funktion zum Einsatz kommt, entspricht dies der Strategie oder den Vorgaben. Deswegen auf Excel zu verzichten, ist jedoch häufig ein Ding der Unmöglichkeit. Es einfach zu ignorieren, ist ebenfalls ein Fehler, schliesslich sammelt sich in vielen Unternehmen in hunderten von Excel-Sheets eine bedrohlich grosse Menge von geschäftskritischen Daten an, die in naher oder ferner Zukunft kaum mehr zu migrieren sind.


Der richtige Weg

Müsste man eine Situationsanalyse über die Eignung der eigenen ERP-Systemlandschaft in Bezug auf die Prozesslandschaft in nur einem Tag vornehmen, würde sich eine Excel-Analyse anbieten: Man müsste bloss pro Abteilung des Unternehmens die Anzahl der aktiven Excel-Sheets und den durch diese belegten Speicherplatz messen und über Stichproben die Gründe für den Einsatz von Excel analysieren.
Hintergrund dieses Schnelltests ist die Annahme, dass Excel-Sheets überall dort zum Einsatz kommen, wo die offizielle ERP-Systemlandschaft und die Anforderungen der Prozesse und des Tagesgeschäfts nicht übereinstimmen. Über die Gründe der Excel-Cluster ist damit noch keine Aussage möglich. Im einfachsten Fall liegen sie in schlechter Schulung oder schlechter Unterstützung durch die eigene IT-Abteilung. Im schwierigsten Fall dienen sie als anspruchsvolle Hilfsmittel und Ersatz für fehlende ERP-Funktionen.
Doch wohin soll die Reise gehen? Ist Excel aus ERP-Sicht einfach nur schlecht und nur ein Indikator für «faule Stellen»? Oder ist Excel eine sinnvolle Ergänzung für starre, aber effiziente ERP-Strukturen? Beide Aussagen stimmen von Fall zu Fall. Excel kann an Stellen, an denen
sich die Anforderungen der Umgebung – die bereits erwähnte «Dynamik des Marktes» – ständig ändern, eine sinnvolle Ergänzung zu ERP-Systemen sein. Massschnur ist dabei aber immer die Frage nach der Wichtigkeit der Daten über einen längeren Zeitraum und für andere Bereiche im Unternehmen. Ohne Integration hat Excel als echtes
ERP-Hilfsmittel eigentlich keine Existenzberechtigung – noch
nicht einmal mehr als «persönliches Arbeitsmittel».




Einsatzheufigkeit von Excelin Schweizer Unternehmen




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