Auch E-Mails können verbindlich sein
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/16
Eine Frage mag noch so einfach sein, wenn ein Jurist sie beantworten soll, wird daraus selten ein klares Ja oder Nein. So geschah es auch mir, als mir kürzlich die Frage gestellt wurde, ob eine E-Mail genüge, wenn ein Vertrag Vertragsänderungen nur schriftlich zulasse. Die Standardantwort wäre ein «Nein» gewesen, denn wenn der Vertrag Schriftlichkeit nicht näher definiert, dann gilt automatisch die Standardvorschrift des Obligationenrechts.
Demnach gelten Erklärung per E-Mail nicht als schriftlich, es sei denn, die E-Mail ist mit einer bestimmten Form von digitaler Signatur versehen, die bisher aber noch nicht verfügbar ist.
Ich wäre aber kein pflichtbewusster Jurist, wenn ich nicht darauf hingewiesen hätte, dass es je nach den Umständen auch ganz anders herauskommen könnte. Es wäre nämlich denkbar, dass die
Parteien zwar in ihrem Vertrag Schriftlichkeit vorgesehen haben, aber im Laufe der Zeit stillschweigend auf diese Erfordernis verzichtet haben. Möglich wäre auch, dass die Parteien Schriftlichkeit schon immer so verstanden haben, dass auch E-Mails davon erfasst seien. Schliesslich ist es denkbar, dass ein Gericht im Streitfall zwar ebenfalls davon ausgeht, dass eine E-Mail keine formgültige Erklärung sei, es aber unter Würdigung der Umstände gegen Treu und Glauben sei, wenn sich die Gegenseite darauf berufen würde. Mit anderen Worten: Es ist alles wieder offen.
Auf den ersten Blick könnte dies dazu verleiten, die Unschärfe des Rechts als Nachteil zu sehen. Verträge sind ja an sich dazu da, klare Verhältnisse zu schaffen. Das gilt besonders für Standardklauseln, wonach Vertragsänderungen oder Mitteilungen schriftlich zu erfolgen haben. Doch Verträge werden nicht in der Theorie, sondern in der Realität gelebt, und in dieser verhalten sich die Parteien oft anders als auf dem Papier festgehalten und wohl auch in letzter Konsequenz vorausgedacht. Ich kenne kaum ein IT-Projekt mit externen Lieferanten, in welchem die Parteien sich nicht in gegenseitigem Einvernehmen anders verhalten haben, als dies im Vertragstext vorgesehen war. Ein Beispiel ist die Regel, wonach Aufträge immer in einer bestimmten Form erteilt werden müssen. Ein anderes ist die Pflicht zur schriftlichen Rüge im Falle eines Mangels im System. Statt des vorgesehenen Postbriefs wird eine E-Mail versandt. Das wirkt weniger aggressiv.
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die vermeintliche Unbestimmtheit des Rechts auch ein Vorteil sein kann. So ist der Text eines Vertrags hierzulande zwar ein wichtiges, aber nicht das einzige Mittel zu seiner Interpretation. Dessen Sinn und Zweck und andere Umstände können ebenso berücksichtigt werden. Waren die Parteien sich in Wirklichkeit sogar einig oder durfte die eine Partei aus dem Verhalten der anderen schliessen, dass eine ganz andere Regelung gelten sollte, so hat diese Vorrang. In der Praxis werden auch viele Abreden stillschweigend getroffen, etwa weil es Selbstverständlichkeiten sind. Auch sie sind verbindlich.
Das alles bedeutet nicht, dass es nicht zum Streit zwischen Vertragsparteien kommen kann. Auch entbindet es eine Partei nicht davor, ihre Behauptungen zu beweisen, zum Beispiel was den wahren Willen der Parteien betrifft. Hier können E-Mails aus Vertragsverhandlungen und der Zeit danach sogar eine zentrale Rolle spielen – Schriftlichkeit hin oder her.