Massanzug, Konfektion oder Auslagern

Alte Kern-Bankenapplikationen erweisen sich als Bremsklötze für die Finanzinstitute. Doch was wird nachrücken? Wieder Marke Eigenbau oder ein Produkt ab Stange – oder gar ein Outsourcing?

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2003/19

     

Es wird derzeit viel geredet in der Bankeninformatik-Szene. Jeder spricht mit jedem, und die Gerüchteküche kocht über: Wie entscheidet sich Julius Bär? Temenos oder Avaloq? Wie kommen UBS und ZKB mit SAP zurecht? Was ist eigentlich bei der AGI los? Und wann kracht's bei Unicible? Fragen über Fragen. Antworten gibt es auch - oder sind es nur Gerüchte?



Mit Sicherheit kein Gemunkel ist: Der Schweizer Bankensektor durchläuft derzeit einen tiefgreifenden Wandel. Deutlich zeigt er sich im IT-Infrastrukturbereich, wo auf allen Ebenen nach Einsparpotential gesucht und an neuen Konzepten gearbeitet wird. Im Zentrum der Umwälzungen stehen die sogenannten Kern-Bankenapplikationen, die das Ende ihres Lebenszyklus erreicht haben.




Eine Erneuerung ist überfällig. Schon zu lange wurde sie hinausgezögert. Zum einen, weil die Internetjahre für völlig veränderte Prioritäten gesorgt hatten, und zum anderen mussten die IT-Plattformen vor und nach dem Jahrtausendwechsel eingefroren werden. Jetzt kommt wieder Schwung, fast schon Hektik in den Markt. Es sind die Banken selber, die auf eine Erneuerung drängen. Denn die Altsysteme sind inzwischen eine echte Belastung geworden - in finanzieller und funktionaler Hinsicht: Die beiden Hauptprobleme sind, dass die Altlösungen erstens im Unterhalt viel zu viel Geld kosten und dass sie zweitens kaum mehr für die Abwicklung neuer Funktionalitäten "fit" gemacht werden können.



Doch wohin soll die Reise gehen? Was sind die Alternativen zu den alten Rechenmonstern - den in Cobol- oder PL/1-Code geschrieben Softwaremonolithen, die seit den 70er Jahren ununterbrochen ihren Dienst verrichten auf IBM- oder Unisys-Mainframes? Den Banken stehen grundsätzlich drei Wege offen - klammert man die Beibehaltung der Altsysteme als vierte Option einmal aus.


Marke Eigenbau

Der Weg Nummer eins führt vom Ansatz her zurück in die Vergangenheit und bedeutet das komplette In-house-Design der neuen Kern-Bankenapplikationen. Jeder CIO (Chief Information Officer), in dessen Brust das Herz eines Informatikers pocht, wird diesen Weg favorisieren, weil er damit das System genau nach seinen Wünschen entwerfen kann. Eine Lösung, die exakt auf die individuellen Masse der Bank zugeschnitten ist. Zweifellos eine verlockende, aber preziöse Option: Denn die Anfertigung einer auf den Leib geschnittenen Banksoftware verschlingt Kosten in der Höhe von 100 bis 500 Millionen Franken. Und das Risiko ist immens, sich nicht nur finanziell, sondern auch funktional völlig zu vergaloppieren.



Kaum eine Bank mehr, selbst nicht die ganz Grossen, die angesichts der horrenden Kosten noch auf ein Total-Reingineering des Altsystems pocht. Die UBS etwa hat sich in ganz spezifischen Teilbereichen für die Integration von Standardkomponenten ausgesprochen; im Bereich der Kontoführung und der Wertschriftenverwaltung etwa, wo sie mit SAP und SDS kooperiert. Eine ähnliche Entscheidung hat auch die Zürcher Kantonalbank gefällt, die im Bereich der Kontoführung ebenfalls mit SAP-Software arbeiten will, im Wertschriftengeschäft jedoch mit dem Schweizer Lieferanten Avaloq gemeinsame Sache macht.
Damit der Einbau einzelner Fertigprodukte ins Gesamtsystem wirtschaftlich sinnvoll realisiert werden kann, brauchen die Banken eine auf Modularität getrimmte Grundarchitektur, Bus- oder auch Middleware-System genannt, an dem sowohl Eigenentwicklungen wie auch Fremdapplikationen angeschnallt werden können, ohne dabei ein Schnittstellenchaos auszulösen. Es ist denn auch exakt dieses technische Fundament, das die meisten grossen Banken noch immer selbst legen wollen und auch müssen: Denn bis heute gibt es schlicht kein Produkt ab Stange zu kaufen, das alle geforderten Grundfunktionalitäten abdeckt.




Den goldenen Mittelweg zu finden zwischen "Make" und "Buy", das scheint derzeit im Bestreben vieler Bankeninformatiker zu liegen. Der immer noch hohe Anteil an Eigenfertigung reduziert das Feld der Anwärter, für die dieser Weg finanzierbar ist, auf die grösseren Bankenkonstrukte. Neben UBS und ZKB ist es in der Schweiz etwa auch die Raiffeisen-Gruppe, die sich für diesen Mittelweg entschieden hat.




One stop shopping

Der zweite Weg führt dorthin, wo sich andere Branchen längst befinden, nämlich in Richtung Anwendungen ab Stange. Die Überlegung: Wie ein Industriebetrieb, dem ebenfalls nicht in den Sinn käme, eine Lagerverwaltung oder eine Finanzbuchhaltung selbst zu entwickeln, sollen auch Banken nicht zum Codierwerkzeug greifen, um eine Kontoverwaltung zu programmieren.



Doch der Vergleich hinkt. Eine Bank ist durch und durch IT. Nähme man ihr die Computer weg, wäre sie keine Bank mehr. Das ist einer der Gründe, warum sich integrierte Bankenpakete - vergleichbar mit ERP-Suiten in der Industrie - noch nicht flächendeckend durchgesetzt haben.




Bei kleineren Banken sind sie aber längst Realität. Gemäss einer Studie von Accenture (Satisfaction Survey of Integrated Banking Packages 2001/2002) arbeiten 80 Prozent der Schweizer Finanzinstitute inzwischen mit Gesamtpaketen. Traditionell sind es Produkte von Gemeinschaftsunternehmen, an die etwa Kantonal- und Regionalbanken die Entwicklung und den Betrieb ihrer IT-Lösungen delegiert haben. Diese meist genossenschaftlich organisierten Verbände funktionierten lange sehr gut. Basisdemokratische Verhältnisse herrschten, entsprechend lang aber waren und sind die Entscheidungswege. So besteht die Gefahr, den Anschluss an die technische Neuzeit zu verpassen. Wenig erstaunlich deshalb, dass die Produkte der Swisscom IT Services (ehemals AGI), Unicible, RBA und anderen computergeschichtlich in die Steinzeit gehören.



Gesamtbankenpakete bieten aber auch unabgängige Softwareanbieter an. Die auf Privatbankenlösungen spezialisierte ERI Bancaire beispielsweise soll gemäss der Accenture-Studie in der Schweiz auf einen Marktanteil von 20 Prozent kommen. Das Genfer Unternehmen beschäftigt rund 500 Personen und zählt 250 Installationen weltweit. Es ist damit eines der grössten Schweizer Softwareunternehmen überhaupt. Noch grösser ist Temenos, ein anderes Genfer Unternehmen, das sich nach dem Absturz an der Börse langsam wieder nach oben rappelt und weltweit 500 Installationen zählt.



Ein drittes Unternehmen, das momentan stark im Kommen ist, ist die bereits erwähnte Zürcher Softwareschmiede Avaloq. Sie steht bei den Banken hoch im Kurs. Innert weniger Monate gewann sie Prestigekunden wie die Bank Sarasin, Pictet, ZKB und Bank Linth und zählt mittlerweile rund 15 Anwender. Ungewöhnlich ist, dass die Lösung von sehr unterschiedlichen Betrieben mit entsprechend anderen IT-Bedürfnissen nachgefragt wird - von der Boutique bis zur grossen Retailbank.



Als relativ neuer Player im Schweizer Bankpaket-Markt will sich SAP ins Spiel bringen - bisher allerdings mit wenig Erfolg. Das hängt damit zusammen, dass der deutsche Businesssoftwarekonzern bei den Bankern ein Imageproblem hat und kein vollständiges Angebot aufweist. Denn im Grunde genommen kann SAP nicht als Gesamtpaketanbieter betrachtet werden. Wer SAP einbaut, muss gleichzeitig zusätzliche Anbieter ins Haus holen - was die Integration teuer und komplex macht. Kommt hinzu, dass SAP zwei unterschiedliche Produktlinien verkauft, eine für Grossbanken und eine für kleinere Banken.




Banking "on demand"

Den dritten Weg beschreiten Banken, die im Zuge der Erneuerung ihrer Kernsysteme sämtliche für den Bankbetrieb nötigen Applikationen mithin bis zu ganzen Prozessen bei einem Dienstanbieter beziehen möchten. Dieser Weg bedeutet den radikalsten Einschnitt ins Selbstverständnis einer Bank und ist auch mit massiven internen Umwälzungen verbunden. Die Entscheidung der Zuger Kantonalbank etwa, den ganzen Businessprozess des Handels über die Zürcher Privatbank Maerki Baumann abzuwickeln, war mit einem Abbau von 25 Stellen am Zuger Sitz verbunden. Das Businessprozess-Outsourcing, wie es die Zuger KB vormacht, stellt die extremste Form der Auslagerung dar. Deutlich weniger weit geht beispielsweise die Regionalbank Bank Linth. Sie hat sich entschieden, die Gesamtbankenlösung von Avaloq einzuführen, will diese aber nicht selber betreiben. Diesen Job soll nun Telekurs übernehmen. Deren Ziel ist klar: Die Avaloq-Lösung soll möglichst vielen weiteren Banken zur Verfügung gestellt werden.



Gleiches Szenario schwebt auch dem US-Outsourcing-Giganten CSC vor, der in der Schweiz massgeblich an der neuen Kernbanken-Lösung der Zuger KB beteiligt war. Die Zuger Lösung, mit etwelchen SAP-Komponenten gespickt, soll nun als sogenannte "Swiss Banking Platform" auch anderen Finanzinstituten schmackhaft gemacht werden.




Es ist anzunehmen, dass in Zukunft weitere Outsourcing-Anbieter auf den Markt treten werden. Anzunehmen ist auch, dass endlich wieder vermehrt Impulse aus der Verbundszene kommen.




Quo vadis?

Den Banken stehen also verschiedene Wege offen, wie sie sich der Hypothek der Altsysteme entledigen können. Bisher haben erst wenige Finanzinstitute beschlossen, in welche Richtung sie marschieren wollen. Früher oder später werden sich alle entscheiden. Der erste Schritt will gut überlegt sein. Schliesslich soll die neue Lösung die nächsten 10 bis 20 Jahre ihren Dienst zuverlässig verrichten. Diejenigen Banken, die ihre Entscheidung bis jetzt hinausgeschoben haben, sind indessen nicht schlecht gefahren. Die Zuger Kantonalbank musste für ihren frühen Strategieentscheid viel Lehrgeld bezahlen und würde heute womöglich eine andere Richtung einschlagen. Andere wiederum, die sehr früh auf den damaligen Nobody Avaloq gesetzt haben, sehen ihr Risiko jetzt belohnt, indem sie sehr günstig zu einem neuen Gesamtpaket gekommen sind, auf das seither immer mehr Banken aufspringen und welches das Potential besitzt, sich als Standard in der Schweiz zu etablieren. Doch die Würfel sind noch längst nicht gefallen. Branchenexperten sind sich einig, dass der Findungsprozess noch zwei, drei Jahre dauern wird.





Kern-Bankenapplikationen

Was sind die sogenannten Kern-Bankenapplikationen, ohne die keine Bank eine Bank wäre? Es handelt sich um eine Ansammlung von Anwendungen, die im Tagesgeschäft einer Bank unerlässlich sind. Es sind dies also Applikationen, welche die Kunden und die Anlagen verwalten, Finanzierungen und Deckungen regeln, die Kassageschäfte und die Zahlungen abwickeln sowie Management- und Support-Dienste unterstützen. Eine kleine Bank zählt typischerweise mehrere Dutzend solcher Anwendungen, während eine Grossbank mehrere tausend besitzt. Nicht in den zentralen Bereich des Core-Banking gehören Anwendungen fürs E-Banking, Bancomat, Beraterarbeitsplätze sowie Informations- und Datenaustauschsysteme wie SWIFT, SIC, Reuters, SWX etc.



Artikel kommentieren
Kommentare werden vor der Freischaltung durch die Redaktion geprüft.

Anti-Spam-Frage: Wie hiess im Märchen die Schwester von Hänsel?
GOLD SPONSOREN
SPONSOREN & PARTNER