Gefährliche Abhängigkeiten vom Software-Anbieter
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2003/16
Wenn sich heute ein Betrieb für eine geschäftskritische Anwendung eine Softwarelösung bauen lässt, dann kann er bereits vor dem ersten Tastendruck sicher sein: Er begibt sich in eine Abhängigkeit, die ihn teuer zu stehen kommen kann. Er ist letztlich demjenigen ausgeliefert, der über den Quellcode verfügt und weiss, wie damit umzugehen ist. Sowohl den Code als auch das Know-how haben in der Regel nur die Anbieter selbst, und sie hüten es gut: Es ist ihre Verdienstquelle - und die Sicherheit, jahrelang über Wartungsverträge im Geschäft zu bleiben.
Neu ist diese Erkenntnis nicht. Dennoch wagen selbst in grossen IT- und E-Commerce-Projekten zu wenige Abnehmer ernsthafte Versuche, sich vor den Folgen dieser Abhängigkeit zu schützen. Oder es werden die falschen Prioritäten gesetzt.
Missverständnis Nr. 1 betrifft die Hinterlegung des Quellcodes. Sie ist wichtig, genügt für sich aber nicht. Es braucht ebenso eine angemessene technische Dokumentation und die passenden Werkzeuge, um aus dem Quellcode ein lauffähiges Programm zu erzeugen. Nutzlos ist auch ein nicht andauernd nachgeführter und geprüfter Quellcode. Denn ist der Abnehmer erst einmal darauf angewiesen, ist es für Updates zu spät. Ebenso wichtig wie die physische Verfügbarkeit des Quellcodes ist aber auch das Recht, ihn benutzen zu dürfen. Rechtlich sind das zwei verschiedene Dinge.
Das führt zu Missverständnis Nr. 2: Software-Verträge enthalten immer wieder Klauseln, wonach der Abnehmer im Falle eines Konkurses der Softwarefirma die nötigen Rechte am Quellcode automatisch erhalten soll. Das Gesetz lässt die Durchsetzung solcher Forderungen nach Konkurseröffnung aber gar nicht mehr zu. Sie wird automatisch in eine drittrangige Geldforderung umgewandelt, die dem Abnehmer nichts mehr nutzt. Hat er Glück, kauft ein Nachfolger die Rechte an der Software aus der Konkursmasse und setzt die Wartung der Software fort - allerdings zu seinen Konditionen.
Missverständnis Nr. 3 ist die Annahme, dass der Lieferantenkonkurs punkto Abhängigkeit die grösste Gefahr für den Anwender darstellt. Die Zahl der IT-Konkurse hat in jüngster Zeit zwar zugenommen, doch viel häufiger kommt vor, dass ein Lieferant "bloss" seinen vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Kunden nicht mehr nachkommt. Die Wartung wird möglicherweise nicht mehr richtig erbracht oder der Lieferant kann oder will vom Abnehmer benötigte Erweiterungen oder Anpassungen der Software nicht rechtzeitig oder nicht zu akzeptablen Konditionen durchführen.
Die Kunden sind gut beraten, sich über die Szenarien einer Ehekrise oder gar Scheidung auch ohne Bankrott des Partners Gedanken zu machen. In den AGB und Standardverträgen der Anbieter findet sich dazu aus verständlichen Gründen meist nichts. Die Risiken trägt vor allem der Kunde. Kommt es zur Krise oder gar zum Bruch, ist es normalerweise der Kunde, der in Zeitnot und unter dem Druck steht, seinen IT-Betrieb aufrechtzuerhalten.
Doch Vorsorge ist möglich. Wartungsgarantien (auch ohne Zwang zum Upgrade der Software), Konventionalstrafen, die Pflicht zum Einbau von Mindestschnittstellen für Drittsoftware, ein Vertragsanspruch des Kunden auf eine Offertstellung zu angemessenen Konditionen oder das Recht des Kunden zur Ersatzvornahme auf Kosten des Anbieters können je nach den Umständen für einen Ausgleich der Kräfte sorgen.
Wichtiger noch ist aber der Mut der Kunden, den Softwareanbietern die Stirn zu bieten, das Problem zu thematisieren und über mögliche Vorkehrungen zu verhandeln. Sonst kostet das Ende letztlich mehr als der Anfang.