IT Realities: Fassaden polieren ist keine Mitarbeiterförderung

Wenn das Unternehmen mit seinen Mitarbeitern kurz- und langfristige Einzelziele vereinbart, kann keine Orientierungslosigkeit aufkommen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/11

     

Die Regel wurde eisern angewandt und galt für Jahrzehnte als unumstösslich. "Charakterbildung" hiess der Leitsatz bis zum Anbruch des Computerzeitalters, wenn neue Mitarbeiter in ihre Aufgaben einzuführen waren.



Im Klartext bedeutete die erste Zeit an der neuen Stelle vor allem einen seelischen Härtetest, bedeutete, dass die Neuen erst einmal zu geisttötender Routinearbeit verknurrt wurden. Dass sie stundenlang Additionen vornahmen, obwohl die Resultate bereits fertig in der Schublade des Chefs lagen. Oder dass sie Aktenberge ordneten, von denen sie hinterher erfuhren, dass sie fürs Altpapier bestimmt waren.




Die Erkenntnis, dass Drill nicht die richtige Form darstellt, um mit den komplexen Bedürfnissen einer Informationsgesellschaft fertig zu werden, ist inzwischen Allgemeingut geworden. Auf barschen Befehl versteht niemand eine Systemarchitektur.


Der Chef als Unterhalter?

Das rüde Klima von einst hat heute seinem Gegenteil Platz gemacht. In Grossunternehmen finden frisch eingestellte Mitarbeiter am ersten Arbeitstag häufig eine ledergebundene Agenda vor, bevor sie zum "Welcome Day" in den Schulungsraum komplimentiert werden. In seiner Begrüssungsansprache versucht sich der Chef zuerst als Alleinunterhalter und gibt launige Reden zum besten. Mit entsprechender Fortsetzung: Die ersten Tage gelten weniger der Arbeit als dem Besuch von Kursen und Kürschen.



Richtig ist, dass sich Effizienz und Innovation nur da einstellen, wo sich Menschen wohl fühlen. Betrachte ich aber die Entwicklung der letzten Jahre, muss ich feststellen, dass die plakativ inszenierte Mitarbeiterorientierung in vielen Fällen ein Fassadenpolieren ist - und sonst nichts. Was ist gewonnen, wenn neue Mitarbeiter in Dingen unterrichtet werden, die sie längst beherrschen? Nichts wirkt lähmender als ein Kurs mit langwierigen Erklärungen zu Office-Programmen, deren Handhabung bereits seit Monaten in Fleisch und Blut übergegangen ist. Pauschalisierte Ausbildungen, bemerke ich immer wieder, sind mit viel Stoff befrachtet, der sich nach kürzerer oder längerer Zeit als Ballast erweist.




Lernen ist dann am effizientesten, wenn auf die persönlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse Rücksicht genommen wird. Erst wenn der vorhandene Kenntnisstand das Mass bildet, fühlen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst genommen.



Besonders motivationstötend sind Verhältnisse, bei denen sich hinter der scheinbaren Fürsorglichkeit Überwachungsmethoden verbergen. Wird jede Tasse Espresso am Monatsende aufgelistet und jeder Privatanruf minutiös registriert, bleibt Selbstverantwortung toter Buchstabe: Der alte Kommandostil lebt weiter, in verfeinerter Form.




Ins kalte Wasser springen

Ständige Weiterbildung ist in kaum einer anderen Branche so notwendig wie in der Informatik, in der sich die Verhältnisse im Vierteljahresrhythmus von Grund auf verändern können. Das Lernen im Direktkontakt mit den Problemen halte ich deshalb für das Beste, abgestimmt auf die jeweilige Sachlage: Erfolgreiche Mitarbeiter verfügen über die Fähigkeit, mit Problemen selbst fertig zu werden. Wer schwimmen gelernt hat - oder lernen will -, braucht sich nicht davor zu fürchten, ins kalte Wasser zu springen.



Fortschrittliche Arbeitgeber bieten Hilfe an. Erweist sich der Mitarbeiter als einsatzfreudig, finden persönliche Wünsche Gehör, etwa nach einer gezielten Zusatzausbildung in einem bestimmten Fachgebiet. Wenn das Lernpotential vorhanden ist und die neuen Kenntnisse einen klaren Nutzen versprechen, wird in zeitgemässen Unternehmen eine Weiterbildung nach Kräften unterstützt.




Auch das beste Fachwissen garantiert nicht von vornherein ein gutes Resultat. Bedingung ist zudem, die eigenen Fähigkeiten in ein Gesamtziel einbringen zu können.



Wenn das Unternehmen mit seinen Mitarbeitern kurz- und langfristige Einzelziele vereinbart, kann keine Orientierungslosigkeit aufkommen. Die gesamte Firma erhält eine Stossrichtung. Damit beginnt eine positive Rückkoppelung. Der Erfolg des Gesamten wird zum Erfolg jedes Einzelnen. Ein Gewinn für beide Seiten: Es wächst nicht nur die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens, sondern auch der Spass aller Mitarbeiter bei der Arbeit.



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