Erweiterte Personenfreizügigkeit: Chance oder Gefahr?

Über die Auswirkungen auf den Informatik- Stellenmarkt Schweiz diskutieren der FDP-Nationalrat Ruedi Noser und Hans Kaufmann, Nationalrat SVP.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/14

     

Am 25. September stimmt das Schweizer Volk über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Länder ab. Im wesentlichen geht es dabei darum, die bestehenden bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU
auf die zehn neuen Mitgliedstaaten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakische Republik, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern auszudehnen.
Der Abstimmungskampf sorgt einmal mehr bereits im Vorfeld für Zündstoff. Gegner prophezeien Gefahren für den Schweizer IT-Arbeitsmarkt, während die Befürworter grosse Chancen wittern.
Die Nationalräte Ruedi Noser (FDP) und Hans Kaufmann (SVP) stellen sich den Fragen von InfoWeek, die insbesondere die Vor- und Nachteile auf den Informatik-Stellenmarkt Schweiz beleuchten.




InfoWeek: Welche Auswirkungen hätte ein «Ja» zur erweiterten Personenfreizügigkeit auf den
IT-Stellenmarkt Schweiz?



Ruedi Noser: Es wird zum ersten Mal ein eigentlicher IT-Stellenmarkt entstehen. Bisher war dieser stark von den Anforderungen und Bedürfnissen des Finanzsektors abhängig. Brauchten die Banken und Versicherungen IT-Fachkräfte, trockneten sie mit ihrer Nachfrage den Markt aus und die übrigen IT-Unternehmen hatten Mühe, geeignete Mitarbeiter zu rekrutieren. Dank der Personenfreizügigkeit werden sich neue IT-Firmen in der Schweiz ansiedeln. Ein Trend, der bereits begonnen hat: Google hat eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung in der Schweiz eröffnet, IBM verlegt grosse Teile ihres europäischen Hauptsitzes von Paris nach Zürich, und Sun will in der Nähe von Lausanne einen Forschungsstandort aufbauen. Mit der Öffnung werden sie von einem grösseren Pool an qualifizierten Arbeitskräften profitieren können.

Hans Kaufmann: Neue Anbieter werden in den Schweizer Markt vordringen, die sich zum Beispiel als Selbständigerwerbende für Einzelaufträge anbieten. Es dürfte gerade in dieser Branche schwierig sein, nachzuweisen, dass diese Selbständigen nicht mit kostengünstigen Unternehmen in ihrem Heimatland zusammenarbeiten, indem sie dort Programmierarbeit ausführen lassen. Wer kann schon die Importe von Programmen auf elektronischen Wegen kontrollieren? Insgesamt werden der Wettbewerb und der Lohndruck zunehmen. Die Zusatzprotokolle ermöglichen auch den mittelosteuropäischen Staaten die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen, und zwar bis zu 90 Arbeitstage pro Jahr. Dies erlaubt, in der Schweiz Arbeit abzuholen und im Ausland fertigzustellen. Sind die Brückenköpfe in die Schweiz einmal erstellt, wird sich der Kostenvorteil der Ausländer negativ auf die einheimischen Beschäftigen auswirken. Die Löhne werden gegen das Niveau der Mindestlöhne sinken, wo solche Regelungen existieren.



Welche Auswirkungen hätte ein «Nein» zur erweiterten Personenfreizügigkeit auf den IT-Stellenmarkt Schweiz?

Noser:
Ein «Nein» wäre eine klare Mitteilung an die Welt, dass sich die Schweiz von den internationalen Märkten abschotten möchte. Dies würde dazu führen, dass international tätige Unternehmen die Schweiz künftig meiden beziehungsweise
ihre Investitionen hierzulande beschränken. Die Schweiz mit ihrer kleinen, vom Exportsektor stark abhängigen Binnenwirtschaft, kommt nicht darum herum, sich im Weltmarkt einzubinden. Bei einem «Nein» wäre der Bundesrat gefordert, eine neue Vorlage zum Thema Personenfreizügigkeit zu erarbeiten. Man kann aber sicher sein, dass bis zur Abstimmung über diese neue Vorlage in der Schweiz jegliches Wirtschaftwachstum versiegt sein wird.

Kaufmann:
Es wird sich kaum etwas ändern. Spezialisten können auch heute von der Schweiz zugelassen werden.



Unter den zehn neuen EU-Ländern sind einige Staaten, die über viele gut ausgebildete IT-Spezialisten verfügen. Wie viele von diesen werden bei einem «Ja» in die Schweiz kommen?

Noser:
Der Wissens- und Denkplatz Schweiz benötigt die besten Köpfe, um im Wettbewerb der Nationen bestehen zu können. Fliessbandarbeit wird auch in Zukunft in Billiglohnländer ausgelagert werden. Die Schweizer IT-Branche braucht aber Leute, die an vorderster Front der technischen Entwicklung mit dabei sind. Ob diese in den neuen EU-Ländern zu finden sind, wird sich zeigen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn aus den alten EU-Ländern mehr Arbeitskräfte zuwandern als aus den neuen.

Kaufmann: Anfänglich arbeitet die Schweiz bekanntlich mit Jahreskontingenten und Kurzaufenthalterbewilligungen, aber nach Ablauf der Übergangsfrist im Jahre 2014 ist eine Zunahme von neuen Mitbewerbern auf dem Schweizer Arbeitsmarkt wahrscheinlich, denn die Lohnunterschiede zwischen der Schweiz und Osteuropa werden trotz des derzeit guten Wirtschaftswachstums in diesen Ländern gross bleiben. Im Gegensatz zu Liechtenstein hat die Schweiz keine Maximalgrenze bei der Einwanderung ausgehandelt. Eine genaue Zahl lässt sich nicht prognostizieren.



In der Schweiz arbeiten viele «Quereinsteiger» in der IT. Werden sich diese durch eine Annahme der erweiterten Personenfreizügigkeit wieder umschulen lassen müssen?

Noser:
Leute, die bereit sind, Leistung zu erbringen und sich weiterzubilden, werden auch in Zukunft erfolgreich sein. Ob Quereinsteiger oder nicht, die Leistung muss stimmen.

Kaufmann: Flexibilität ist nicht nur in der IT-Branche gefragt. Ein zusätzliches Angebot an kostengünstigen, gutausgebildeten Fachkräften aus dem Ausland wird schwächere einheimische Marktteilnehmer in Bedrängnis bringen und allenfalls erneut zu Umschulungen zwingen.



Eine kürzlich veröffentlichte Seco-Studie kommt zum Schluss, dass die Freizügigkeit mit den alten EU-Staaten praktisch keinen Einfluss hatte. Teilen Sie diese Auffassung?

Noser:
Die Seco-Studie hat nur einen kurzen Zeitraum von zwei Jahren als Basis für die Auswertungen. Ausserdem sind die Vorteile und Möglichkeiten der Schweizer Arbeitskräfte, im Ausland Arbeit zu finden, ausgeblendet. Somit ist die Aussagekraft der Studie meines Erachtens beschränkt. Die effektiven Auswirkungen der Personenfreizügigkeit werden sich erst im Laufe der nächsten fünf bis zehn Jahre zeigen.

Kaufmann: Nein, die präsentierten Statistiken berücksichtigen die Einbürgerungen nicht. Wenn man die rund 70'000 Einbürgerungen in den Jahren 2002 bis 2004 berücksichtigt, dann hat die Bevölkerung mit ausländischer Nationalität in diesen zwei Jahren nicht um 48'000 sondern um rund 120'000 zugenommen. 70'000 davon sind lediglich dank der Einbürgerung wieder aus der Statistik verschwunden. Der grösste Teil der Zuwanderung dürfte aus den alten EU-Ländern stammen. Dass die Osterweiterung auch der EU Einwanderer beschert, obwohl hier noch strikte Kontingente und andere Übergangsregelungen zur Anwendung kommen, zeigen die Zahlen des deutschen DWI, das seit Mai 2004 bis 2005 von rund 150'000 Ost-Zuwanderern ausgeht. Da Grossbritannien im Gegensatz zu Kontinentaleuropa praktisch keine Barrieren für Immigranten aus diesen Ländern aufgestellt hat, geht das DWI von rund 50'000 Zuwandern nach Grossbritannien aus. Die englische Regierung spricht hingegen bereits von 130'000.



Warum ist die erweiterte Freizügigkeit für Schweizer ICT-Unternehmen wichtig/unwichtig?

Noser:
Um erfolgreich zu sein, müssen grundsätzlich zwei Dinge erfüllt sein: Erstens muss man die zur Verfügung stehenden Technologien so einsetzen, dass man produktiver als seine Mitbewerber arbeiten kann und zweitens braucht man die besten Arbeitskräfte. Dank dem durch die Personenfreizügigkeit entstehenden grösseren Pool wird es möglich sein, mehr Talente in die Schweiz zu bringen. Zudem wird der IT-Industrie in Zukunft eine wichtige Rolle in der Schweizer Wirtschaft zukommen, vergleichbar mit derjenigen der Maschinenindustrie von heute. Will die Schweizer IT-Branche aber die gleiche Bedeutung für die Wirtschaft erlangen wie in Vergleichsländern wie Finnland oder Irland, müssen 50'000 bis 100'000 neue Stellen geschaffen werden. Um dies zu erreichen, werden wir auch Leute ennet der Grenze brauchen.

Kaufmann: Bei der Erweiterung der Personenfreizügigkeit geht es nicht um ein Handelsabkommen, wie immer wieder suggeriert wird. Die Exportwirtschaft und ihre direkten und indirekten Zulieferer wie die ICT-Unternehmen werden bei einem «Nein» kaum Einbussen hinnehmen müssen. Vergessen wir nicht, dass die Schweiz für jeden Franken Export in die EU 25 Importe in Höhe von 1,25 Franken tätigt und hinter den USA mit 22 Prozent Anteil als zweitgrösster Kunde der EU rangiert. Jeder Handelsboykott wäre somit ein Eigentor für die EU und würde zudem gegen WTO-Vorschriften und andere Handelsabkommen verstossen. Einige ICT-Unternehmen würden sich möglicherweise über kostengünstigere, gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland freuen. Was sie aber an Salären einsparen, wird möglicherweise später in Form von höheren Beiträgen an die Arbeitslosenversicherungen und an andere Sozialwerke nachzuzahlen sein. Es sei daran erinnert, dass nach Ablauf der Übergangsfrist die Beitragsjahre der Ost-Immigranten in ihren Heimatländern zum Beispiel für die Arbeitslosenkasse angerechnet werden, obwohl davon kein Franken in unsere Arbeitslosenversicherung floss.




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