Editorial

Die Schattenseite der Konvergenz von Telefonie und IT


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/08

     

Wäre es nicht wunderbar, sich von zu Hause mit dem Notebook via Internet ins Firmennetz einzuwählen und diesen Computer – Softphone sei Dank – gleich auch als Telefonapparet mit direkter Anbindung an die Firmentelefonzentrale zu verwenden? Mit solchen und ähnlichen Beispielen preist eine Vielzahl von Voice-over-IP-Anbietern die Vorzüge der Konvergenz von Daten- und Sprachnetzen. Die Rede ist von geringeren
Kosten, höherer Funktionalität und dem Versprechen, allen Unkenrufen zum Trotz eine gleich gute Sprachqualität zu bieten. Ein Punkt fällt aber oft
unter den Tisch: Die Zuverlässigkeit der Systeme.




Hier tun sich zwischen der klassischen IT-Welt und der Telefonie noch immer grosse Gräben auf. In der klassischen Telefonie wird heute erwartet, dass ein System eine Mindestverfügbarkeit von 99.999 Prozent aufweist, was einer jährlichen Nichtverfügbarkeit von rund 5 Minuten entspricht. Von Telefonzentralen und Kernkomponenten in Carrier-Netzen werden heute gar Verfügbarkeiten von «6NINES» erwartet, was einer durchschnittlichen Nichtverfügbarkeit von nur 31 Sekunden pro Jahr entspricht.
In der klassischen IT-Welt ist ein Server mit einer Verfügbarkeit von 99,99 Prozent oder einer Stunde jährlicher Nichtverfügbarkeit in vielen Fällen bereits oberste Spitzenklasse. Bei einem typischen
Office-Server liegt die Verfügbarkeit eher im Bereich von 99,9 Prozent oder rund 8 Stunden Nichtverfügbarkeit pro Jahr – ein ganzer Arbeitstag.






Wird bei solchen Differenzen Konvergenz praktiziert, so führt das zu einer Verfügbarkeit des kleinsten gemeinsamen Nenners. Seitdem zum Beispiel Handys mit IT- und Datenfunktionalitäten ausgestattet sind, sind Abstürze dieser Geräte nicht weniger häufig wie beim PC geworden.
Das muss nicht zwangsläufig so sein. Carrier haben Konvergenz von Sprach- und Datennetzen in ihren Netzen schon praktiziert, lange bevor es den Begriff Voice-over-IP überhaupt gab. Über ihre höchstverfügbaren, proprietären Lösungen verfügen aber die meisten Unternehmen nicht. Sie sind für sie auch kein Thema: Für sie wird die vielzitierte Konvergenz von Sprach- und Datennetzen mit dem Argument propagiert, dass sie ihre Telefoniesysteme durch günstige Standardtechnologie aus der IT-Welt verbilligen und funktionell aufwerten können. Übersehen wird dabei allerdings, dass dieser Preis- und Flexibilitätsvorteil darauf basiert, dass IT-Systeme weniger hohe Erwartungen erfüllen müssen und für andere Einsatzgebiete konzipiert wurden.





Ob ein Datenstrom etwa mit einer halbierten Bandbreite oder über zehn Knoten mehr oder weniger ans Ziel kommt, ist egal. Bei ultimativen Echtzeit-Anwendungen wie Sprachtelefonie macht es aber einen Unterschied. Auch die Zahl der Anwendungen und Komponenten pro System sind in der IT-Welt höher. Mehr Anwendungen pro System führen zwangsläufig zu mehr möglichen Interaktionen und somit zu mehr möglichen Störungen. Mit steigender Zahl systemkritischer Komponenten sinkt auch die durchschnittliche Verfügbarkeit des Gesamtsystems. In der IT-Welt mag das im Einzelnen vernachlässigbar sein. Wer aber den Telefonhörer abhebt, will einen Summton – und zwar immer.




Ein Zürcher Dienstleistungsbetrieb mit rund 100 Mitarbeitern, dessen Telefonsystem ich mir vorführen liess, hatte dies erst kürzlich erfahren müssen: Die PCs der Telefonistinnen liefen eines Tages wegen eines Software-Verteilproblems nicht mehr. Damit waren auch die PC-gestützten Vermittlerarbeitsplätze nicht mehr verfügbar. Die Damen am Empfang mussten auf das Gästetelefon im Wartezimmer zurückgreifen, um in Handarbeit die Anrufer doch noch durchstellen zu können. Die Firma hatte sich zwar zuvor gegen eine Voice-over-IP-
Anlage entschieden, es aber offenbar nicht für nötig erachtet, zur PC-Vermittlersoftware auch noch einen klassischen Vermittlerapparat zu kaufen.




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