Gesunder Geist in leidendem Körper?
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2008/07
In den vergangenen Jahren entwickelte sich der Help Desk zu einer nicht mehr wegzudenkenden Funktion innerhalb der IT. Waren es anfangs noch hauptsächlich die grossen IT-Organisationen, die sich diese Institution leisteten, sind es in der Zwischenzeit auch die mittleren und kleinen IT-Abteilungen, die nicht mehr darauf verzichten wollen.
Das Produkt «Help Desk» ist nicht zuletzt dank dem Hype von ITIL zu einem Gebrauchsgut geworden. Verfahren, Ausbildung, gute integrierbare Werkzeuge jeder Preisklasse zur Unterstützung sind fast aus der Box zu haben (siehe Marktübersicht ab Seite 39). Die Anwenderorientierung hat sich gebessert, die Call-Annahme ist freundlicher und professioneller. Es stehen Internet- und Intranet-Wissensdatenbanken zur Verfügung und Newsletter mit guten Tipps werden regelmässig verschickt. Der Anwender ist gemäss Umfragen damit wirklich zufriedener geworden.
Im Alltag liegt der Fokus auf der Einrichtung und Weiterentwicklung eines SPOC (Single Point of Contact). Damit lassen sich die allseits begehrten «Quick wins» erzielen.
Die Gründe dafür, dass sich jemand an den Help Desk wendet ist in der Regel fehlendes Wissen: Was muss oder kann ich wie tun, damit ich weiterarbeiten kann?
Untersuchungen zeigen, dass es sich bei etwa 60 Prozent der Fälle um die falsche Bedienung der richtigen Anwendung oder den falschen Einsatz einer Anwendung oder eines Werkzeugs handelt. Das heisst, vielfach ist fehlende, falsche oder ungenügende Instruktion oder Ausbildung der Anwender die Ursache. Bei weiteren 30 Prozent funktionieren eine oder mehrere Komponenten eines Service nicht so, wie sie sollten, und oder sie sind fehlerhaft infolge mangelnder Produkt- und Testqualität. Die übrigen 10 Prozent sind Anfragen unterschiedlicher Art.
Aus der vorgängig geschilderten Situation ergeben sich bei genauerer Betrachtung ein paar schwergewichtige Probleme. Nachfolgend sind vier dieser Probleme herausgegriffen.
Die Gleichung «Help Desk = Incident Management» geht nicht auf. Der Help Desk selber ist zwar ein wichtiges und steuerndes Element der Supportorganisation, aber eben nur ein Teil. Statistiken werden ausserhalb nur selten zur Verbesserung der Leistung verwendet. Deshalb entsprechen die Supportleistungen häufig nicht den Anforderungen. Wegen mangelhafter Zusammenarbeit machen in der Folge die Help-Desk-Mitarbeiter «die Faust im Sack».
Zu den Eigenarten von Services gehört zum einen auch die Beteiligung des Anwenders an der Entstehung des Service (genannt Faktorkombination) und zum andern die Tatsache, dass der Service erst zum Zeitpunkt dessen Konsums entsteht. Das ist sowohl beim eigentlichen IT-Service so wie auch bei dessen Support. Gerade diese Augenblicklichkeit – diese Momente der Wahrheit – ist in den meisten IT-Organisationen noch nicht so richtig wahrgenommen worden. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich der Anwender kaum bewusst ist, dass auch er ein integrierter Teil der von ihm geforderten Supportleistung ist.
Ein weiteres Problem: Die Supportorganisation wird nicht als Ganzes inklusive der Einbindung der Anwender und aller beteiligten nachgelagerten Supportstufen betrachtet. Prozessmessung und Prozessverbesserung über Organisationsgrenzen hinweg findet nicht statt. Selbstverständlich gibt es auch Ausbildungs- und Informationsveranstaltungen für Super-User oder IT-Supervisoren. Leider sind diese häufig nicht konsequent auf das eigentliche Ziel ausgerichtet, was die Nutzenoptimierung des Supports ist. Manchmal gelangen diese Veranstaltungen nicht mal über den Charakter von Motivationsprogrammen hinaus.
Ein einziges Problem oder alle geschilderten zusammen haben für die IT-Organisation ernstzunehmende negative Auswirkungen. In einem Satz gesagt, führt dieser konsequente Ausbau des Help Desk letztlich zur Schwächung der gesamten Supportorganisation.
Durch die Fokussierung auf den Help Desk lassen die Aufmerksamkeit und die Supportfähigkeit der Stellen ausserhalb gefährlich nach. Wenn er «zu gut» wird und damit die allgemeinen Grundanforderungen eines Supports übertrifft, kommt der 2nd-Level zwangsweise aus der Übung. Er schläft ein oder vergisst zumindest schnell seine guten Tugenden. Das sind wiederum gute Gründe, um die Qualifikation im Help Desk zu erhöhen. Und mit diesem Anstieg steigen zwangsläufig die Kosten mit.
Wenn es dann zudem wirklich darauf ankommt, funktioniert die Supportorganisation nicht so, wie sie sollte. Die Steuerungsfunktion des Help Desk wird schnell überfordert, weil das gute Zusammenwirken nicht geübt ist.
Weil die Auswertungen und Leistungsstatistiken den Weg nicht in die Führungsmittel aller Linienmanager finden, wird der Nutzen der immer schon als administrative Aufgabe empfundenen Ticketerfassung nicht erkannt. In der Folge sinkt die Motivation zur korrekten Dokumentation drastisch. Das Ergebnis davon sind nicht auswertbare Qualitätsinformationen, die wiederum für die Problembeseitigung als Quelle fehlen. Leider wird das vielfach gar nie erkannt, da die systematische Auswertung der Störungsinformationen fehlt.
Da die Help-Desk-Mitarbeiter aus Eigennutzen die festgelegten Bearbeitungsfenster für ihre Eigenlösungsrate voll ausschöpfen, haben nachgelagerte Organisationseinheiten fast keinen zeitlichen Reaktions- und Handlungsspielraum mehr. Sie sind deshalb immer zu spät. Das drückt auf die Kooperationsbereitschaft.
Aus fehlender Einsicht, zur Supportorganisation zu gehören, grenzen sich Kunden und Anwender gegenüber der IT ab: Kann ich nicht! Darf ich nicht! Will ich nicht! So werden die Möglichkeiten der Optimierung bei weitem nicht ausgeschöpft, und die Supportorganisation entwickelt sich zu langsam oder gar nicht weiter.
Selbstredend ist das Bild nirgendwo so trostlos, wie es hier pointiert dargestellt wird. Aber von allem ein wenig ist auch schon genug, sich mit der Zukunft und dem Weg dahin auseinandersetzen zu müssen. Wie immer, wenn wir uns nach der Suche nach Lösungen in einer Sache vergraben haben, hilft meist der Schritt zurück. Der Manager – und so auch der IT-Leiter und seine Gehilfen, der Incident-, Problem-, Konfiguration- und Knowledge-Manager – betrachten sich die Szene aus der kritischen Distanz, um das selber Geschaffene auch mal in Frage zu stellen. Bereits Einstein gab zu Bedenken, dass ein Problem nie auf der Ebene gelöst werden kann, auf der es entstanden ist.
Die Good-Practice-Empfehlungen von ITIL bilden eine gute Grundlage zur Lösung dieser Probleme. Good-Practice finden sich aber nicht nur in der IT, sondern überall in den verschiedensten Bereichen der Wirtschaft. Insbesondere die Industrie hat damit grosse Erfolge erzielt. Auch diese Erfahrungen verdienen beachtet zu werden.
Der Incident Life Cycle ist ein hervorragendes Instrument zur dauernden Verbesserung der Verfügbarkeit respektive zur Reduktion der Nicht-Verfügbarkeit. Jede Störung bedeutet den Beginn der Nicht-Verfügbarkeit eines Service für den davon betroffenen Anwender. Der Incident Life Cycle (siehe Grafik unten) bildet das Grundmuster für die ganzheitliche Betrachtung von Störungen und deren Behebung – nicht nur im Availability Management.
Ziel der Anstrengungen muss sein, die Dauer der einzelnen Phasen zu verkürzen respektive ganz zu eliminieren. Die Massnahmen können so gegliedert werden:
- Wissen/Skills: Gute Ausbildung und Training aller beteiligten Mitarbeiter bilden sicher die Grundlage zum korrekten Einsatz und zur richtigen Bedienung der Geräte und Funktionen. Das erforderliche Wissen sollte an der richtigen Stelle zugänglich bereitgestellt werden.
- Zusammenarbeit: Die Zusammenarbeit wird durch die transparente Gestaltung der Kommunikations- und Leistungsflüsse mit Erfolgsmetriken und Arbeitsregeln, klarer Zuweisung der Verantwortung gestützt. Dazu gehören das Treffen der erforderlichen verbindlichen Vereinbarungen, das Kontrollieren der Ergebnisse und Vornehmen der erforderlichen Korrekturen. Die sorgfältige Auswahl der richtigen und zuverlässigen Partner (Lieferanten und Provider) ist selbstredend.
- Technologie: Mit dem Einsatz von geeigneten Überwachungs- und Diagnosewerkzeugen, der Beschaffung und Erstellung von zuverlässiger und wartungsfreundlicher Hard- und Software und dem Durchführen von methodischen und wiederholbaren Tests werden Störungen einerseits vermieden und andererseits schneller erkannt und beseitigt.
In der Praxis sind bestimmt viele Anstrengungen in dieser Richtung gemacht worden. Dabei wurde der Anwender leider meist nicht umfassend in die Überlegungen miteinbezogen. Unbeantwortet blieben deshalb Fragen wie: Wie kann der Anwender bei der Ent-deckung mit einfach bedienbaren Werkzeugen unterstützt werden? Wie kann das Melden von Störungen vereinfacht und wenigstens teil-automatisiert werden (Meldung auf Knopfdruck)? Wie kann die Selbsthilfe durch geschäftsprozessbezogene, lernende Systeme unterstützt werden? Wie können wir über das Verhalten des Anwenders mehr in Erfahrung bringen, damit wir ihn noch besser bedienen können?
Neben der Bereitstellung gut funktionierender, robuster und zuverlässiger IT-Komponenten steht die bestmögliche Verteilung des erforderlichen Wissens im Zentrum des optimalen Supports, das heisst der Gesamtheit des Wissens, das es braucht, um die Services korrekt zu beziehen und bei vorkommenden Unterbrechungen korrekt zu handeln.
Dazu stellen sich folgende Fragen: Welches Wissen wird benötigt? Was sind die Auswirkungen des Fehlens auf das Business des Anwenders (Impact)? Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird das Wissen benötigt (Verwendungswahrscheinlichkeit)? Was sind die Zugriffsmöglichkeiten (Acessability) auf dieses Wissen? Mit welcher Geschwindigkeit muss das Wissen verfügbar sein (Zugriffsgeschwindigkeit und Prozessqualität)? Wo befindet sich das Wissen heute? Mit welchen Massnahmen kann das Wissen anforderungsgerecht verteilt werden?
Supportmodell einer IT-Service-Organisation
Die Ausarbeitung eines Wissensprofils über die gesamte Supportorganisation unterstützt das Festlegen der Optimierungsmassnahmen. Dieses Profil und die Bewertung des Ist-Zustandes können als Vorstufe zur Beschaffung und Implementation eines Knowledge-Management-Systems gute Dienste leisten. In die Betrachtungen sind aber auch die Kosten für die Aufbereitung und die laufende Pflege einzubeziehen.
Eine Voraussetzung zur Verbesserung der Zusammenarbeit ist die Darstellung der ganzheitlichen Support-Organisation, schnelles Entdecken, zügiges Melden und rasches Bereitstellen der Lösung – und das alles bei optimierten Kosten. Das erfordert die reibungslose Zusammenarbeit aller beteiligten Stellen: vom Anwender über den Super-User zum Help Desk und Engineer bis zum externen Provider und Lieferanten.
Es gilt dabei folgende Fragen zu beantworten:
- Haben wir die Supportorganisation als Ganzes im Überblick?
- Sind sich alle Rollen der Supportorganisation ihrer Verantwortung bewusst?
- Sind externe Supportorganisationen über entsprechende Verträge zu den passenden Leistungen verpflichtet?
- Kennen alle Beteiligten die Ziele und deren Erfolgsmessung?
- Sind die geltenden Regeln klar und unmissverständlich?
- Wissen die Beteiligten, mit wem sie zusammenarbeiten sollen und worüber sie kommunizieren?
- Verfügen die am Support beteiligten Rollen über geeignete Hilfsmittel, welche die Zielerreichung optimal unterstützen?
Zur Darstellung der Supportorganisation als Ganzes kann ein Rollen- oder Leistungsmodell (siehe Grafik links) sehr hilfreich sein. Mit dieser Darstellung lassen sich die Antworten auf obige Fragen weitgehend zuordnen und transparent gestalten.
Der gute Help Desk ist ein wichtiger Teil der gesamten Supportorganisation. Diese Organisation gilt es gezielt auf den Kundennutzen ausgerichtet weiter- zuentwickeln. Der Help-Desk-
Agent muss als kundenorientierter Supportspezialist höhere Anerkennung finden.
Trotz guten Fortschritten in der Vergangenheit im Support der Anwender sind noch viele Potentiale wenig bis gar nicht ausgeschöpft worden. Dabei gilt es insbesondere, die noch stark verbreitete funktionale Sicht prozessmässig zu erweitern. Sowohl IT-interne wie auch bereichsübergreifende Schlagbäume müssen beseitigt werden und die Prozesssteuerung ist eine nächste Entwicklungsstufe zu führen.
Die durch flächendeckende Schulungen vermittelten Good-Practice von ITIL müssen eine grössere Akzeptanz und Anwendung finden. Dann erhalten die Zertifikate der Mitarbeiter ihren wirklichen Wert. Vorher haben sie nur gekostet.