Voice over IP: Reto Bachmann vs. Rudolf Schwarz


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2003/08

     

VoIP geht einen neuen Ansatz in der Übermittlung von Sprache. Statt über ein Telefonienetz wird sie über das Datennetz verschickt. Das sei billiger und effizienter, sagen die Befürworter. Allerdings nur zum Preis einer massiven Qualitätseinbusse, mit Kompatibilitätsproblemen und Abstrichen bei der Benutzerfreundlichkeit, erwidern die Gegner.


Die Kostenfrage


Pro: Ein Vorteil von VoIP ist sicher, das man über das firmeneigene WAN/LAN telefonieren kann und dadurch, gerade auch mit kleinen Aussenstellen, enorm Kosten einsparen kann. So lassen sich die Netzwerk-Leitungen besser auslasten - bezahlen muss man sie ja ohnehin. Kommt dazu, dass man nicht zwingend an jedem Standort eine Telefonzentrale benötigt. Dadurch spart man Personalkosten und Hardware. Dank VoIP kann endlich auch die Telefonie von einem einzigen Punkt aus gesteuert werden. In unserem Fall brachte die VoIP-Einführung klare Vorteile, denn wir sind gleichzeitig in ein neues Gebäude umgezogen, so dass wir die ganze Verkabelung für die herkömmliche Telefonie einsparen konnten und jeden Arbeitsplatz nur mit zwei statt drei RJ45-Kabel vernetzen mussten. Die Anschaffungskosten können nicht einfach 1:1 verglichen werden: Wenn man auf VoIP umstellt, ist dies in vielen Fällen an eine neue Netzwerkinfrastruktur gekoppelt. Man benötigt also eigentlich nur ein VoIP-fähiges Netzwerk und einen Server mit Software. Die Anschaffungs- und vor allem Wartungskosten belaufen sich auf einem Drittel der herkömmlichen Telefonanlage.




Kontra: Wer genau rechnet, stellt schnell fest, dass VoIP teurer kommt. Was immer vergessen wird: Das Netz muss ausfallsicher sein und aus diesem Grund auch komplett redundant zur Verfügung stehen. Kommt VoIP als Ersatztechnologie für das Telefonnetz zum Zug, heisst das auch, dass man immer eine Backup-Lösung zur Verfügung haben muss. Typischerweise lässt sich diese nur über das teure Natelnetz realisieren.


Die Qualitätsfrage


Pro: Die Behauptung, VoIP biete schlechte Qualität, ist einfach an den Haaren herbeigezogen. In unserer VoIP-Installation ist das sicher nicht der Fall: Qualitätsprobleme kennen wir nicht. Das einzige Problem, das wir bisher hatten, waren die herkömmlichen Faxgeräte, die anscheinend nicht immer VoIP-tauglich sind und daher nicht problemlos arbeiten. Die Qualität von VoIP stimmt, verbesserungswürdig ist einzig das Image.




Kontra: Unsere Erfahrung ist, dass die heutigen Datennetze die gewünschte Qualität nicht liefern können. Aber auch die Clients haben noch Defizite: Windows XP deckt zwar viele Anforderungen ab, muss aber für den Gebrauch noch stark nachjustiert werden. Was die Migros betrifft, so haben wir im Jahr 2001 ein VoIP-Projekt zusammen mit unserer neu gebildeten SAP-Retail-Crew aufgesetzt und trotz hartnäckigem Willen zur Nutzung unsererseits nach 9 Monaten abgebrochen. Einer der Hauptgründe war, dass die eingesetzten Produkte den Stabilitäts- und Verfügbarkeitsanforderungen nicht genügten. Zudem hat sich die Erreichbarkeit der Adressaten massiv verschlechtert. Daher bin ich überzeugt, dass die VoIP-Technologie frühestens in zwei Jahren als Ersatz für die klassische Telefonie in Frage kommt.


Die Funktionalitätsfrage


Pro:Aktuelle auf dem Markt verfügbare VoIP-Anlagen verfügen über einen beträchtlichen Funktionsumfang. Es sind viele Funktionen darunter, die man in der klassischen Telefonie vergeblich sucht. Dazu kommt, dass die meisten Features der herkömmlichen Telefonie beispielsweise mit dem neuesten Release von Cisco-VoIP ebenfalls abgedeckt sind. Das Problem ist wohl eher, dass VoIP eine deutlich höhere Funktionalität bietet als die herkömmliche Telefonie und damit Funktionen vorhanden sind, die man eventuell gar nicht braucht. Zudem ist die Cisco-Technologie so flexibel einsetzbar, dass ich eigene XML-Anwendungen und Schnittstellen programmieren und auf einfache Art und Weise meine Bedürfnisse abdecken kann, sollten diese durch den Standard nicht unterstützt werden. Dies ist mit der herkömmlichen Technologie nicht ohne weiteres möglich. Die Anbindung und grafische Visualisierung der VoIP-Funktionalitäten ist ein grosser Vorteil. Ausserdem wird mir die Möglichkeit geboten, die Sprache der Telefone und Web-Anwendungen dem User entsprechend einzustellen, respektive der User kann dies selber machen. In einem internationalen Unternehmen wie unserem ist dies ein grosser Nutzen.




Kontra: Die ISDN-Funktionen sind in den neuesten Produkten enthalten. Die Bedienerfreundlichkeit oder vielleicht die Umgewöhnungsfreundlichkeit ist aber klar noch verbesserungsfähig. Es ist unverständlich, wenn ich heute Mitarbeiter für den Gebrauch eines Telefons in die Schule schicken muss. Aber genau das ist bei VoIP-Anlagen nötig. Nötiger wäre eine Vereinfachungen der Bedienung. Ausserdem haben wir festgestellt, dass die vorhandenen Funktionalitäten wohl Callcenter-Anforderungen abdeckten, aber bei weitem nicht die gewohnten Telefonie-Möglichkeiten.


Die Standardfrage


Pro: Das Problem ist viel mehr darin zu suchen, dass es momentan zuwenig Anbieter von VoIP-Hardware gibt. Cisco beispielsweise hält sich strikt an den Standard und ist somit auch voll kompatibel zu anderen Anbietern. Doch: Proprietäre VoIP-Installationen mit allen Nachteilen sind eine Realität.



Kontra: VoIP-Technologie ist noch weit davon entfernt, auf verbindlichen Standards zu basieren. Die Kompatibilität unter den verschiedenen Anbietern ist noch nicht gegeben. Das führt dazu, dass jedes Produkt anders aufgebaut ist. Daher besteht eine klare Abhängigkeit vom Lieferanten.


Die Unterhaltsfrage


Pro: Der Unterhalt der Anlage kann von einem IT-Mitarbeiter oder für die Standard-Anwendungen auch von einem Nicht-IT/Telekom-Mitarbeiter ausgeführt werden. Zudem muss nicht mehr der Anschluss getauscht werden, sondern der Mitarbeiter kann sein Telefon unter den Arm nehmen und an einen anderen Arbeitsplatz wechseln, da das Telefon personalisiert ist und nicht der Anschluss. Somit fallen die ganzen Kosten fürs Umpatchen und Programmieren mit einem Schlag weg.




Kontra: Die Parallelisierung mit dem Helpdesk- oder PC-Support kann theoretisch echte Kostenvorteile bringen. Trotzdem wird man nicht umhin kommen, einen spezifischen Telefon-Support anzubieten.

Die Kontrahenten

Pro: Reto Bachmann ist CIO von Alcan Transportation Systems

Alcan Transportation Systems

Anzahl VOIP-Telefone: 130

Im Einsatz seit: 2001

Hersteller: Cisco

Jährliche Telefon-Kosten: ca. Fr. 26'000.-






Kontra: Rudolf Schwarz ist CIO des Migros-Genossenschafts-Bund

Migros-Genossenschafts-Bund

VoIP-Projekt gestartet: 2001

Projekt abgebrochen: nach neun Monaten

Anzahl Telefon-Apparate: über 2000




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