ERP-Auswahl: Darauf kommt es wirklich an

Im grundlegend veränderten ERP-Markt 2007 rücken bei der ERP-Auswahl neue Kriterien in den Mittelpunkt. Statt um das System selber, geht es zunehmend auch um projektorganisatorische und vertragliche Fragen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/16

     

Über ERP-Auswahl ist schon alles geschrieben worden, müsste man eigentlich meinen. Schrittweises Vorangehen, gut dokumentiertes Pflichtenheft, klare Entscheidungskriterien, Prozessoptimierung vor Systemeinführung: alljährlich schreiben die verschiedensten Autoren die immer gleichen Sprüche. Ist das nun reine Ideenlosigkeit oder entspricht das dem Bedürfnis der Leser? Nun: Für jeden, der eine ERP-Auswahl für sein Unternehmen zu verantworten hat, ist ein solches Unterfangen wohl immer eine neue und herausfordernde Aufgabe – von der Last der Verantwortung ganz zu schweigen. Eine nicht alltägliche Aufgabe obendrein. Da sind gut gemeinte Ratschläge immer willkommen.



Nun schreiben wir das Jahr 2007 und es stellt sich die Frage, ob all die Ratschläge, die auch schon in den Vorjahren erteilt wurden und nun in der Presse im Umfeld der Topsoft wiederholt werden, noch immer richtig und gültig sind. Die Antwort ist: Ja, all das, was da geschrieben wird, dürfte noch immer gültig sein. Doch Achtung: Der ERP-Markt im Jahr 2007 hat sich verändert – grundlegend verändert. Diese Veränderungen müssen beachtet werden, wenn man nicht schnell und gnadenlos Schiffbruch erleiden möchte. Im Folgenden soll gezeigt werden, was sich verändert hat und was man bei einer ERP-Auswahl doch anders oder besser machen sollte als mit den üblichen Vorgehensmodellen.


Boomjahr 2007

Wenn man in der Zukunft einmal auf das Jahr 2007 und die umliegenden Jahrgänge zurückblicken wird, werden diese für viele ERP-Anbieter als die «Boomjahre» dastehen. Der Markt boomt an allen Ecken und Enden. Viele Unternehmen haben sich mit IT- und ERP-Investitionen über lange Jahre zurückgehalten. Mittlerweile sind die Systeme in vielen Unternehmen aber mehr als veraltet und passen hinten und vorne nicht mehr.


Gleichzeitig hat sich der Anbietermarkt zu einem gewissen Teil konsolidiert. Hinter vielen kleineren Systemen stehen heute grössere und professionellere Organisationen. Leider beschränkt sich die Professionalität in vielen Fällen rein auf den Verkauf. Im Bereich der Projektierung und Implementierung sind die Ressourcen knapp und der «Andrang» auf der Kundenseite führt zu einem regelrechten Kampf um die besten Berater.



Situationen, wie man sie in der letzten Boomwelle bitter kennenlernen musste, gehören heute wieder zum Projektalltag: Gute Berater sind kaum zu haben, die wenigen betreuen häufig fünf und mehr Projekte gleichzeitig, Termine werden hinten und vorne nicht mehr gehalten und leider viel zu häufig wird versucht, die besseren Berater nach Ende der Konzeptphase gegen schlechtere, häufig sogar reine Juniors, auszutauschen.


Wie man dieser Situation im Rahmen der Auswahl begegnet, lässt sich kaum mit einem Patentrezept regeln. Das beste Mittel ist es wohl, eigene Ressourcen aufzubauen und so die Abhängigkeit vom Anbieter und seinen Beratern zu reduzieren. Das mag sicher der einen oder anderen doktrinären Meinung entgegenlaufen, ist aber eine sinnvolle Massnahme, die auch den Geldbeutel schont. Als zweites ist es möglich, darauf zu achten, dass das gewählte ERP-System auf einfach verständlichen und breit abgestützten Technologien aufbaut. Viele ERP-Systeme sind im Hintergrund so komplex, dass sie nur von Experten eingestellt werden können. Genau das ist zu vermeiden.


Grenzenloser Funktionsumfang

ERP-Systeme haben eine ähnliche Entwicklung durchlaufen wie das Automobil: Es gibt immer mehr Funktionen für das gleiche Geld. Der Funktionsumfang von ERP-Systemen ist mittlerweile so unübersichtlich geworden, dass gerade die grossen Anbieter kaum mehr in der Lage sind, diesen auf einem Blatt und einfach darzustellen. Da ist es noch viel weniger möglich, zu erwarten, dass ein Berater noch den Überblick behält.



Die Berater kann man dabei – etwas grob – in zwei Gruppen aufteilen: Die einen kennen die Systemfunktionalität, wie sie sich noch vor fünf Jahren präsentierte, in- und auswendig. Die anderen – die häufig erst kurz in diesem Business tätig sind – kennen vor allem die Präsentationsfolien der eigenen Marketingabteilung. Häufig kann man auch beobachten, dass die Qualität neuester Module eher gering ist, da sie wenig erprobt sind und nur von wenigen oder gar keinen Bestandskunden genutzt werden. Für die ERP-Auswahl bedeutet dies, dass man sich vorerst nur auf etablierte Funktionalität abstützen und «das Neueste» und «das Modernste» einfach mal ignorieren sollte. Man muss quasi den «etablierten Kern» herausschälen und sich dann bei der vergleichenden Bewertung auf diesen konzentrieren.


Vorsicht bei «Chef-Funktionen»

Mit dem steigenden Funktionsumfang entfremden sich ERP-Systeme immer mehr von der Management-Ebene. Die Systeme sind einfach zu umfangreich, zu detailliert und zu kompliziert, als dass sich der gestresste Manager und Geschäftsführer über längere Zeit in Evaluations-Workshops aufhalten möchte. Die Anbieter haben das auch gemerkt und in den letzten Jahren eigene Funktionalitäten für die Top-Manager geschaffen. Unter dem Namen MIS, Business Intelligence oder so ähnlich wird gezeigt, wie der sonst eher zur Informatik distanzierte Chef nun ganz einfach alles kontrollieren kann und obendrei noch viele bunte Bilder erhält.


Doch Vorsicht: Gerade solche «Chef-Funktionen» bringen eine gut organisierte und auf Gründlichkeit bedachte Evaluation schnell ins Schwanken. Der Anbieter muss nur darauf achten, dass er – solange das Top-Management im Raum ist – nicht etwa komplizierte Abläufe im Rahmen der Materialbedarfsplanung darstellt, wie es vielleicht die Agenda vorschreibt, sondern flugs ein paar tolle Management-Cockpits an die Wand wirft. Damit kann man schnell einen «Chef» an die Angel nehmen und darauf hoffen, dass die Stimmungsmache und die Kantinengerüchte in die richtige Richtung laufen.



Dazu kommt wieder die beliebte Unsitte, sich direkt beim höheren Kader oder Verwaltungsrat zu melden und etwas von Investitionsschutz zu orakeln. Leider leben wir immer mehr mit einer binären Managergeneration, die gerne schnell und auf Basis von wenigen Fakten entscheidet.


Investoren wollen Geld verdienen

In den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrtausends waren ERP-Anbieter häufig Gründer-geführt und damit quasi im Familienbesitz. Danach kam für einige Anbieter der Weg an die Börse, der für nicht wenige mit erheblichen Schiffbrüchen auf dem neuen Markt endete. Bei den verbleibenden Anbietern treten die Gründer nun langsam, aber sicher ab. Die Zukunft gehört den gut organisierten Investoren, die vor allem eines wollen: Profit.


So ist es nicht selten, dass die neuen Herren mit dem Rotstift Entwicklungsabteilungen zusammenstreichen oder diese ganz nach Indien spedieren. Kulanz gegenüber dem Kunden wird immer mehr zum Fremdwort. Nicht wenige langjährige Kunden reiben sich ob der ruppigen und ignoranten Art, die wieder Einzug gehalten hat, verwundert die Augen und müssen feststellen, dass sie jahrelang von der Hand in den Mund gelebt haben – ohne Auftrag, ohne sauberes Pflichtenheft und rein auf Basis von Gottvertrauen.



Dies ist kein Weg in die Zukunft. Für eine ERP-Evaluation gilt es, das Pflichtenheft und die Verträge robust und mit einem doppelten Boden auszugestalten. Gerade hier überschätzen sich viele Unternehmen noch immer und verzichten auf die Hilfe von versierten Experten. Dabei kostet die Durchsicht eines Pflichtenheftes und die Unterstützung bei der Vertragsgestaltung nur einen Bruchteil einer ganzen ERP-Auswahlberatung und ist heute mit Sicherheit einer jener Aspekte, wo man externe Hilfe wirklich sinnvoll einsetzen kann.


Akademiker verdrängen die Praktiker - endgültig

Ein weiteres Problem ist die fortschreitende Akademisierung der ERP-Welt. Während Berater früher häufig aus der Praxis kamen und sich über AVOR oder Controlling in die ERP-Welt eingearbeitet haben, ist der Standardweg heute der über die Hochschule. Hier werden angehende ERP-Berater geschult, ihre Konzepte in Powerpoint-Folien zu giessen und ellenlange Prozessmodelle zu malen. Die Erfahrung in der Praxis und damit ein gut ausgebildeter gesunder Menschenverstand bleiben auf der Strecke.


Gerade hier gibt es kein Universalrezept. Dennoch sollte man darauf achten, dass die Berater, die im Projekt zum Einsatz kommen, ausreichend praktische Erfahrung haben. Dies kann man überprüfen und gegebenenfalls auch in groben Kriterien vertraglich fixieren.



Die genannten Punkte versuchen, die aktuelle Situation am Markt aufzugreifen und einige Tips für den Auswahlprozess zu geben. Grundsätzlich ist es wichtig, zu begreifen, dass bei einer ERP-Auswahl immer weniger die Frage nach dem optimalen ERP-System, aber immer mehr projektorganisatorische sowie vertragliche Fragestellungen im Vordergrund stehen.


Der Autor

Dr. Eric Scherer ist Geschäftsführer der i2s consulting (www.i2s-consulting.com). Sie erreichen ihn unter scherer@i2s-consulting.com.




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