Editorial

Aus Fürsten Vasallen machen


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/19

     

Herr W. ist IT-Leiter bei einem grösseren Reiseunternehmen mit Standorten auf der ganzen Welt. An jedem stehen viele Server mit noch viel mehr Systemen und ein Haufen Arbeitsplätze, die auf diese Systeme zugreifen. Das hat Herr W.s Vorgänger während sieben Jahren aufgebaut und ihm sozusagen bei seinem Austritt hinterlassen. Herr W. hat nun die Aufgabe, aus diesem Wirrwarr eine einheitliche Umgebung zu machen. Und wie es sich für einen richtigen Manager gehört, hat Herr W. auch schon eine Vision.
Sie kennen das? Dann kennen Sie sicher auch die Fortsetzung: Herr W. wird zuerst einmal einige Systeme konsolidieren. Danach wird er versuchen, seinen neuen Standard an alle Standorte zu replizieren, um die Verfügbarkeit unternehmensweit sicherzustellen.







Unterdessen muss Herr W. noch einige neue Systeme einführen, denn die Firma wächst. Für jedes erfindet er jeweils rasch eine Lösung, und neue Standorte erscheinen einfach als zusätzliche Clusterknoten auf seiner Karte.
Das ginge ja alles noch. Doch Herr W. hat Probleme. Bereits bei der Systemkonsolidierung stösst er auf heftigsten Widerstand. Es scheint, als sei jeder Standort von einem kleinen Informatik-Fürsten besetzt, der sein Territorium bis aufs Blut verteidigt. Kommt hinzu, dass sich gewisse Systeme partout nicht bis an jeden Standort ziehen lassen wollen. Die Projektkosten steigen, mit jedem neuen System und Standort. Statt in ein gelobtes Land rutscht Herr W. immer tiefer in einen Sumpf von internen Machtkämpfen und horrenden Beraterhonoraren.






Was ist geschehen? Herr W.s idealistische Vision ist an einer weniger perfekten Realität gescheitert. Nebst dem menschlichen Faktor hat er übersehen, dass er die Sache auf einer zu systemorientierten Ebene angegangen ist, die nicht skaliert. Jede Expansion seiner Firma hat zu zusätzlichen Fixkosten geführt, statt die Kosten der bestehenden Infrastruktur mitzutragen.
Herr W. hat ganz einfach die Komplexität geografisch verteilter Systeme unterschätzt und nicht gesehen, dass er mit jedem Standort noch höhere Einführungs-, Personal- und Unterhaltskosten produziert und bei jedem Systemwechsel enorm höhere Migrationskosten.






Einen Faktor hat Herr W. bei der Formulierung seiner Strategie ganz vergessen: Bandbreite. Natürlich hat er im Zuge seines Projekts die eine oder andere Standleitung etwas aufgebohrt. Ich spreche aber nicht von «etwas mehr Bandbreite», sondern von «massiv mehr Bandbreite»! Von WAN-Links mit 100 MBit und mehr. Und von einem zentralen Rechenzentrum, an das jeder Standort angeschlossen ist.
Utopie? Niemals! Selbst wenn man sich bei einem solchen Szenario entsprechend absichern muss, rechnet es sich bereits heute. Eine 150 MBit-Standleitung von Zürich nach London zum Beispiel kostet noch läppische 10'000 Franken pro Monat, oder 33,33 Franken pro Mitarbeiter bei 300 Arbeitsplätzen. Nur schon das zusätzliche IT-Personal, das zur Betreuung der
Systeme an einem zweiten Standort nötig wäre, kostet das Fünffache. Und Bandbreite wird immer billiger, während die Kosten für verteilte
Systeme immer weiter steigen.
Hätte Herr W. mich als Berater beigezogen, hätte ich ihm Bandbreite verkauft, seine Fürsten enteignet und so die Kosten gesenkt und gleichzeitig alle Probleme gelöst.




Artikel kommentieren
Kommentare werden vor der Freischaltung durch die Redaktion geprüft.

Anti-Spam-Frage: Aus welcher Stadt stammten die Bremer Stadtmusikanten?
GOLD SPONSOREN
SPONSOREN & PARTNER