Editorial

Tablet PC: Darauf hat niemand gewartet

Die Stiftsteuerung mag zwar in gewissen Situationen intuitiv sein, für die meisten Büro-Anwendungen bringt sie aber keinen Effizienzgewinn.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/40

     

Es ist nicht der erste Versuch, und es wird nicht der letzte sein, den Stiftcomputer zu einem begehrten Verkaufsschlager zu machen. Auch der Tablet PC, den Microsoft-Chef Bill Gates letzte Woche zusammen mit über 20 verschiedenen Herstellern der Öffentlichkeit präsentierte, wird es in den nächsten Jahren nicht schaffen, so meine Prognose. Er wird weder das herkömmliche Notebook, noch den Handheld oder gar den Desktop-PC verdrängen können.


Überzeugendes Konzept

Das Konzept des Tablet PC klingt auf den ersten Blick überzeugend: Jeder setzt im Alltag noch immer Stift und Papier ein, ob für Notizen in Sitzungen, ob für Korrekturen auf einem ausgedruckten Text oder für das Brainstorming. Warum also nicht den Block in den Computer verbannen, der unendlich viel Speicherplatz bietet und eine direkte Weiterverwendung und Archivierung der Eingaben erlaubt. Das Papier kann das nicht bieten. Auch das Lesen von elektronischen Texten ist ab einem Tafel-Display, das in der Hand zu halten ist, zweifellos bequemer als von einem Bildschirm.





Nachteile noch und noch

Dennoch fehlen dem Tablet PC eine Reihe von Eigenschaften, die die
Masse der Benutzer werden haben wollen - und die er nicht bieten kann:




Handschrifterkennung: Eine schnelle Handschrifterkennung, die die Eingaben in 99,9 oder mehr Prozent der Fälle versteht. Mit Apples Newton Messagepad hat es vor vielen Jahren begonnen, und es ist in den letzten Jahren nur mässig besser geworden: Computer können unsere Handschrift nicht in brauchbarer Genauigkeit lesen. Entweder müssen wir uns mit unserer Schrift wie bei der Palm-Lösung "Graffiti" anpassen, oder aber der Benutzer kommt beim Schreiben nicht recht voran: Schreibt er zu schnell, mag der Computer nicht mit. Verlangsamt der Benutzer daraufhin, muss er immer noch stets kontrollieren, ob der Computer die Schrift auch richtig entziffert hat. Für schnelle Notizen ist das unbrauchbar; die Handhabung des Computers lenkt den Benutzer letztlich zu sehr ab. Das scheint auch Microsoft erkannt zu haben: Demonstriert wird der Tablet PC vor allem in Situationen, in denen die Schrift als solche mit "elektronischer Tinte" festgehalten werden kann. Handheld-Benutzer kennen das schon lange.





Hohe Netzunabhängigkeit: Das Interessante an einem Tablet PC wäre die Möglichkeit, das Gerät wie ein Buch oder einen Block Papier ständig mitnehmen zu können, sollte unterwegs mal etwas nachgeschlagen oder aufgeschrieben werden. In den bisherigen Tests schaffte freilich keiner der verfügbaren Tablet PC mehr als 3,5 Stunden ohne Steckdose. Für ein Notebook ist das akzeptabel, für ein Papier- oder Buchersatz-Gerät ist das viel zu wenig. Da der Benutzer ohnehin an die Steckdose gefesselt bleibt, ist es einfacher und billiger, den Notebook- oder Desktop-Bildschirm schräg nach hinten zu kippen und im Stehen zu nutzen.




Displaygrösse: Die grössten Tablet PC bieten heute eine Bildschirmdiagonale von 12,1 Zoll. Das liegt daran, dass es auf dem Markt heute keine grösseren Notebook-LCDs mit eingebautem Digitizer für die Stifteingabe gibt. Mit einem solch kleinen Bildschirm wird ein Tablet PC aber nicht ernsthaft als Ersatz für Desktop-PC oder primäres Notebook dienen können. Es bleibt ein Zweitgerät, ist dafür aber zu teuer.




Sinnvolle Anwendungen: Der Tablet PC bringt dann die grössten Vorteile, wenn die Anwendungsprogramme des Benutzers sie unterstützen. Zwar sind eine Reihe von Tablet-PC-optimierte Programme versprochen worden (so etwa das nächste MS Office), doch viele werden es in den nächsten Jahren nicht werden. Die Stiftsteuerung mag zwar in gewissen Situationen intuitiv sein, für die meisten Büro-Anwendungen bringt sie aber keinen Effizienzgewinn: Gegenüber der Tastatur ist sie bei Texteingabe langsamer, gegenüber Mäusen mit Scrollrad und mehreren Tasten weniger präzis und schnell. Ausserdem ist die Stiftsteuerung bei dauernder Benutzung unbequem und ermüdend, wenn der Tablet-PC nicht auf dem Tisch oder in der Hand liegt (bei einem Gewicht von teilweise fast zwei Kilo). Das qualifiziert ihn wiederum höchstens zum Zweitgerät.




Preis: Die angekündigten Modelle kosten zwischen 3000 und 5000 Franken. Für ein Zweitgerät wird das in aller Regel zu teuer sein; der Preis müsste unter 1000 Franken fallen. Der Tablet PC soll aber nicht ein Gerät sein, das Mitarbeiter in den Firmen nur jeweils bei Bedarf von der EDV ausleihen: Der Tablet PC nimmt für sich in Anspruch, ein Werkzeug für den Alltag zu sein, und zwar nicht nur für die obersten Chefs. So bleiben als Zielmarkt jene Unternehmen übrig, die im Betrieb eigene mobile Anwendungen einsetzen, sei es für die Magaziner im Lager, für die Ärzte auf Krankenvisite im Spital oder Kontrolleure in der Produktion. Hier aber müssen Tablet PC gegen die sehr viel günstigeren und handlicheren Handhelds ankämpfen, die heute ebenfalls drahtlos kommunizieren können und bei in der Praxis nicht zu vermeidenden Stürzen auch viel robuster sind.


Diffuse Marktvorstellungen

Die Marktvorstellungen der Anbieter wie HP, Toshiba oder Acer sind denn auch eher diffus. Ihre Zurückhaltung ist spürbar und wird an den jetzt vorgestellten Geräten deutlich. Anders noch als die Prototypen, die Bill Gates vor zwei Jahren erstmals präsentierte, sind die meisten der heutigen Tablet PC in erster Linie (Sub-)Notebooks und erst in zweiter Linie auch Stiftcomputer. Solange das so bleibt, wird sich die Idee des mobilen Notiz- und Info-Pads als grosser Bruder des Handheld aber kaum an breiter Front durchsetzen. Und der Preis bleibt hoch.



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