Editorial

Fortschritt, nein danke?


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/14

     

Entwickler, so scheint es, müssen damit leben, dass sich ein stetiger Fluss neuer Technologien über sie ergiesst und sie sich (um bei der Analogie zu bleiben) wie Ertrinkende fühlen, die wahllos nach dem nächsten Technologie-Strohhalm greifen müssen, um nicht unterzugehen und ihre Arbeit fortsetzen zu können – bis zur nächsten Technologiewelle, die alles bislang Dagewesene wieder fortspült. Nach dem regelrechten «Ankündigungsfeuerwerk» auf der Mix07 im Mai war es Ende Juli wieder einmal soweit, als die Beta 2 von .NET 3.5, VS 2008 und, als ob dies nicht bereits genug wäre, eine neue Preview von Blend 2 freigegeben wurden.



Doch der Eindruck täuscht. Das Rad des Fortschritts dreht sich in der Softwarebranche weitaus langsamer, als es den Anschein haben könnte. «Oldies but goldies» lautet eher das Motto. SQL und das relationale Konzept aus den 70er Jahren dominieren ähnlich deutlich den Datenbankmarkt wie die Einheitspartei auf Kuba, rund 95 Prozent aller Entwickler programmieren – allen Modesprachen wie Ruby oder Python zum Trotz – mit Sprachelementen, die auf die frühen 70er Jahre zurückgehen, und arbeiten mit Betriebssystemen, deren Wurzeln ebenfalls in dieser (rückblickend überaus prägenden und beinahe schon «glorreichen») Ära liegen. Und auf was stützen sich einige der neuen Sprachelemente von C# 3.0 und VB 9? Auf die Programmiersprache LISP, die aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts stammt.




Auch die Idee, .NET-Programme im Browser auszuführen, ist nicht gerade ein revolutionäres Konzept. War dafür nicht damals Java zuständig, das in diesem Punkt fast vollständig von der Bildfläche verschwunden scheint?
Fast erscheint es so, als hätte die Softwarebranche ein Problem mit dem Fortschritt. Man sollte sich allerdings eher einmal Gedanken darüber machen, warum es radikal neue Konzepte bei den Entwicklern so schwer haben.



Die vielen vermeintlich neuen Versionen aus Redmond dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich unter dem Strich nicht viel ändern wird. Nüchtern betrachtet ist das kommende .NET Framework 3.5 eine Version 2.0 mit ein paar Aufsätzen und in erster Linie dazu da, dem wirklich innovativen LINQ-Abfrage-
framework einen Rahmen zu geben. Dessen genialer «Erfinder» Erik Meijer (ein ehemaliger Informatikprofessor aus Utrecht mit einem Faible für gebatikte T-Shirts) verkündete erst vor kurzem «Stop inventing new things» und dürfte damit vielen Entwicklern aus der Seele gesprochen haben. Doch Vorsicht. Gemeint war nicht, den Fortschritt künstlich zu verlangsamen oder zwei Jahre keine neuen Previews mehr rauszugeben. Es geht bei dieser Forderung darum, Neues konsequent mit den vorhandenen Techniken zu schaffen. LINQ, das auf der CLR 2.0 aufsetzt und konsequent mit den Sprachelementen von C# 2.0 realisiert werden könnte, ist dafür ein hervorragendes Beispiel.



Die grosse Herausforderung besteht darin, Pseudofortschritt nicht mit echtem Fortschritt zu verwechseln und es vor allem zu schaffen, die vielen Ideen, die in den Softwarelabors entstehen, in Produkte wie Visual Studio oder Eclipse einfliessen zu lassen. Gerade Microsoft tut sich in diesem Punkt schwer. Für ein Unternehmen, das sich nach eigener Aussage die Forschung 7 Milliarden Dollar pro Jahr kosten lässt, ist die Ausbeute des Research Lab recht mager. Dabei gäbe es viel zu tun, die Softwarebranche aus einer Art Innovationskrise zu befreien. Wer wissen möchte, was sich abseits von Versionsnummern und Produktzyklen wirklich tut, sollte sich in Ruhe mit den Papieren von Erik Meijer beschäftigen. Was er mit «Computing in the clouds» umschreibt, könnte die nächste grosse Innovationswelle in der Softwareindustrie sein.




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