ITIL - Rettung oder Regulierungswut?

Die Einführung von ITIL löst in einem Unternehmen durchaus das eine oder andere Problem. Mit ITIL allein ist es aber nicht getan.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/11

     

Durch ITIL wurde seit Anfang der 1990er Jahre der längst überfällige Umschwung von der einseitigen Technikzentrierung zur Prozessorientierung zumindest angestossen, in Gang gehalten – und meist auch erreicht, so dass heute fast alle Grossunternehmen die wichtigsten ITIL-Prozesse implementiert haben. Doch sind dabei oft Prozess-Silos entstanden, wo früher Technik-Silos das integrierte Zusammenwirken aller IT-Spezialabteilungen bremsten.



Im krassesten Fall werden die einzelnen ITIL-Prozesse mit grossem Aufwand eingeführt und in mehreren Schritten optimiert, während gleichzeitig das konzertierte Zusammenwirken aller ITIL-Prozesse durch die entstehenden Prozess-Silos gehemmt wird. Die Gründe dafür sind zahlreich: weiterhin unterschiedliche Begrifflichkeiten – trotz ITIL! –, unergiebige organisatorische und hierarchische Abgrenzungen, bürokratische Umständlichkeiten, divergierende oder unverträgliche Tools sowie inkonsistente Datenbestände für die Steuerung und Unterstützung der Service-Erbringung. Und nicht zuletzt verhindern unzulänglich konzipierte, ausschliesslich auf Kosteneinsparung fixierte Outsourcing-Versuche eine sinnvolle Service-Erbringung. Sobald die daraus entstehenden Defizite offenbar und von den Service-Konsumenten und -Kunden massiv beklagt werden, steigt zweifelsohne die Tendenz zur Überregulierung, und sie wächst sich im weiteren gar zur Regulierungswut aus, wenn sich auch nach strengerer Regulierung noch keine wesentlichen Verbesserungen ergeben haben, z.B. effektiv geringere Service-Ausfallzeiten.




Bei den immer genauer ausgearbeiteten und abgestimmten Regulierungen (Policies) und Prozessen gerät meist vollständig unter die Räder, was eigentlich erreicht werden soll: Einen Service bei jedem einzelnen Abruf durch einen Service-Konsumenten verzugs-, naht- und reibungslos in der vereinbarten Qualität zu erbringen – sooft der Konsument den Service braucht. Doch in den meisten Fällen wird der Service-Konsument beim Messen und Erfassen der Service-Verfügbarkeit gar nicht berücksichtigt, obwohl er bei jeder einzelnen Service-Erbringung zu 100 Prozent involviert und zudem der entscheidende erfolgskritische Produktionsfaktor ist!



Dieser Produktionsfaktor ist aus Sicht des Service-Lieferanten jedoch ein externer und deswegen schwerlich so gut zu beeinflussen und zu steuern wie interne Mitarbeiter und Prozesse, IT-Systeme und die erforderlichen Service-Kapazitäten. Da meist nur die IT-Systeme betrachtet werden, handelt es sich deshalb bei den abgeschlossenen Vereinbarungen eher um System Level Agreements als um sachgerechte Service Level Agreements. Das Nachsehen haben die Service-Konsumenten in den Fachabteilungen – schliesslich bauen sie darauf, dass die vereinbarten Services verlässlich erbracht werden, damit sie ihre geschäftlichen Aktivitäten effizient und produktiv ausführen können.
Demzufolge bewirkt jeder nicht erfolgreich erbrachte Service unmittelbar einen wirtschaftlichen Schaden, sei es, weil der jeweilige Mitarbeiter im Fluss seiner Aktivitäten aufgehalten oder vollkommen unterbrochen wird, sei es, weil er auf anderem Weg das erforderliche Ergebnis zu erreichen versucht, indem er beispielsweise bei nicht funktionierendem E-Mail-Zugang ein Fax verschickt.



Ein wesentlicher Grund für diese Unzulänglichkeiten bei der Service-Erbringung liegt in ITIL selbst und kann auch durch noch so detaillierte Regeln für die Prozesse nicht eliminiert werden: Weder in ITIL Version 2 noch in Version 3 ist vollständig, konsistent und umfassend beschrieben, was einen Service ausmacht. Erst wenn auf beiden Seiten – Service-Auftraggeber und die von ihm bedachten Service-Konsumenten hier, Service Provider und ihre externen und internen Service Supplier dort – Klarheit herrscht über die Charakteristika eines Services (immateriell, unwiederholbar, jeweils einmalig zu erbringen, flüchtig usw.), werden sie zu sachgerechter und wirksamer Spezifizierung, Konzipierung, Erbringung und Konsumtion von ICT-basierten Business Support Services kommen und dabei die Konzepte und Prozessbeschreibungen aus ITIL produktiv einsetzen.


Zu lösende Aufgaben in Ergänzung zu ITIL

Zunächst müssen eindeutige Service-Termini abgestimmt und festgelegt werden – vom Begriff des Services selbst über die beteiligten Rollen bei der Service-Erbringung bis hin zum umfassenden und sachgerechten Begriff der Service-Verfügbarkeit. Nur so lässt sich der gängige Begriffswirrwarr in diesem Bereich lichten und die Zahl der Missverständnisse reduzieren. Darauf aufbauend muss ein durchgängiges Service-Konzept erarbeitet werden, das von der Service-Spezifikation bis zur Service-Erbringung an die Service-Konsumenten reicht, also die gesamte Spanne des Services umfasst.



Auf Basis des Service-Konzepts sind in der nächsten Phase geeignete Service-Modelle für die erforderlichen ICT-basierten Business Support Services (ICTBSS) mit zweckmässigen Service-Beiträgen zu entwickeln. Per Standard-Spezifikation wird jeder ICTBSS und jeder dafür erforderliche Service-Beitrag mit seinen zwölf Service-Attributen vollständig und konsistent spezifiziert, so dass deren Erbringung fundiert und qualifiziert beauftragt und überwacht werden kann. Dazu ist die Festlegung adäquater Service-Liefereinheiten auf jeder Service-Ebene nötig, analog zur kWh in der Stromversorgung. Zudem müssen die Definition, die Messung und das Reporting der Service-Verfügbarkeit auf der Basis der Liefereinheiten und unter Einbeziehung jedes einzelnen Service-Abrufs durch jeden einzelnen Konsumenten erfolgen.




Bevor es in die Umsetzung des Service-Konzepts geht, muss sich der Service Provider für ein Service-Providing-Modell entscheiden, das er konsequent anwendet. Mit diesem Modell wird in Grundzügen festgelegt, ob und welche ICT-Systeme und -Produkte der Provider selbst beschafft, betreibt und betreut und welche Beiträge er bei externen Service-Suppliern einholt, die dann über die entsprechenden ICT-Systeme verfügen müssen. Die Aufbauorganisation ist dem ausgewählten Service-Providing-Modell anzupassen.



Als nächste Aufgabe steht an, eine reibungslos funktionierende Service Supply Chain mit einer überschau- und steuerbaren Supply-Tiefe aufzubauen – im besten Fall mit nur einer Stufe, die der Service Provider selbst steuern muss. Für die Erbringung der Service-Beiträge im Rahmen dieser Service Supply Chain müssen geeignete ex- und interne Service Supplier ausgewählt und auf der Basis der Service-Spezifikationen gezielt beauftragt werden. Diese Service Supply Chain gilt es für die laufende Service-Erbringung so zu steuern, dass die vereinbarten ICT-basierten Business Support Services bei jedem Abruf durch einen Service-Konsumenten verzugs-, naht- und reibungslos in der vereinbarten Qualität erbracht werden. Dazu müssen vorher die erforderlichen Service-Kapazitäten und zu erbringenden Service-Volumina aus den Werten der jeweiligen Service-Spezifikationen abgeleitet und in ausreichendem Umfang bereitgestellt werden.



Durch die Planung, Etablierung und Anwendung von dedizierten Service-Laststufen (Grund-, Mittel- und Spitzenlast) mittels Lastverteilungs- und Virtualisierungstechniken werden eine bedarfsgerechte Service-Erbringung und ein rationeller Ressourceneinsatz erreicht.
Für die störungsfreie Erbringung der vereinbarten Services ist es erfolgskritisch, eine wirksame Incident-Prophylaxe zu etablieren, die nur durch systematisches und gezielt vorsorgendes Problem-Management sichergestellt werden kann. Jeglicher Incident bedeutet Service-Versagung und ist ein Verlustbringer für die betroffenen Business Units. Das Service-Monitoring ist dabei Ausgangs- und Zielpunkt für das vorsorgende Problem-Management, das seinerseits auf service-orientiertem Systemmonitoring und Systems Management beruht.



Die letzte Herausforderung effizienter Service-Erbringung besteht darin, eine durchgängige Service-Kostenrechnung zu etablieren, die auf den festgelegten Liefereinheiten beruht und die Kostenbeiträge aller konstitutiven Service-Beiträge systematisch erfasst und zusammenführt. Mit Blick auf die nachvollziehbare Verrechnung von Service-Volumina müssen flexible Preismodelle entwickelt werden, die in die Service-Angebote einfliessen.


Fazit

Wird ITIL also unter der Fragestellung «Rettung oder Regulierungswut» betrachtet, verbaut das den Blick auf die unbedingt notwendigen ergänzenden Aufgabenstellungen und Herausforderungen. Anstatt sich auf die vorgabengetreue Ausführung der ITIL-Prozesse zu beschränken, müssen umfassend greifende Massnahmen konsequent auf die verlässliche, vereinbarungsgemässe und wirtschaftliche Erbringung von ICT-basierten Business Support Services ausgerichtet werden. Und das ist durch die Anwendung von ITIL alleine bei weitem nicht garantiert.


Der Autor

Paul G. Huppertz arbeitet als Architect Service Engineering bei Avanade. Sie erreichen ihn unter paulh@avanade.com.




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