Probleme mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen

Mit grosser Verzögerung werden im Gesundheitswesen Abläufe und Daten digitalisiert. Machtkämpfe verhindern Einsparungen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/14

     

Die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen steigen von Jahr zu Jahr. Gründe für diese Entwicklung sind genauso vielfältig wie die in die Diskussion geworfenen Rezepte und die gut gemeinten Vorschläge. Nur, es scheint alles nichts zu nützen: Der alljährliche Prämienanstieg ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Nun preist die IT-Industrie sich selber als letztmögliche Gesundungspille vor dem grossen Infarkt an. Wird sie geschluckt, soll sie, wie zuvor in anderen Branchen bewiesen, die Wende zum Besseren einleiten und auch in Spitälern, Arztpraxen und Versicherungen für Ablaufeffizienz sorgen. Und somit tiefere Kosten bescheren. Aber dazu braucht es die Digitalisierung des Gesundheitswesens, in der Fachwelt auch «E-Healthcare» genannt.


Englischer Basistunnel

Doch was genau darunter zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander – schliesslich setzen Hospitäler nicht erst seit gestern Computer und Datennetzwerke ein, sind also teilweise schon digitalisiert. Am besten behilft man sich deshalb eines Beispiels: In England entsteht so etwas wie der Gotthardbasistunnel für das Gesundheitswesen.





Der britische nationale Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) steckt in den nächsten zwei Jahren die rekordverdächtige Summe von 7,6 Milliarden Euro in ein riesiges E-Healthcare-Projekt. Was wollen die Briten mit all diesem Geld? Es ist das ambitionierte Ziel, sämtliche Krankenhäuser, Kliniken und Arztpraxen zu vernetzen. Und zwar so, dass die Krankenakten aller 50 Millionen Bürgerinnen und Bürger Britanniens künftig sicher in einer zentralen Datenbank eingelagert und Medizinern und Pflegepersonal über ein Breitbandnetz zugänglich gemacht werden können.
Neue Applikationen sollen diese Basisinfrastruktur nutzen und Arzttermine, Geld- und Rechnungstransfers online abwickeln helfen. Auch Rezepte sollen in Zukunft elektronisch in die Apotheken geschickt werden. Das ambitionierte Projekt, so stellen es sich die unbescheidenen Briten vor, solle Vorbildcharakter für alle andere Industriestaaten haben.


Uneffiziente Insellösungen

Der Gedanke eines zentralistisch aufgezogenen Systems mit einem einzigen riesigen Datentopf in der Mitte ist reizvoll. Doch leider in vielen Ländern nicht realisierbar, weil sich diesem Ansinnen strukturelle, politische und gesellschaftliche Hemmnisse entgegensetzen. Somit erstaunt es nicht, dass viele E-Healthcare-Projekte, die in anderen modernen Industriestaaten angedacht werden, völlig anders aussehen. Es sind meist wenig effiziente Insellösungen, in die das Geld gesteckt wird, wie das US-Marktforschungsunternehmen Dorenfest & Associates der Meinung ist. Beispielweise in den USA, wo die Investitionen in E-Healthcare-Projekte im letzten Jahr um 9,3 Prozent auf satte 23,6 Milliarden Dollar zugenommen haben. Das Geld floss meist in Lösungen, die nicht ohne weiteres untereinander kommunizieren konnten. Die Achillesferse bei vielen Projekten ist die Übertragung von Patientendaten. Sie stellt sich sehr komplex dar und wird daher selten genutzt, stellt Dorenfest & Associates fest.





Praxislösungen


Ambitionierter Zentralismus

Dieser unkoordinierte Ansatz ist typisch für die meisten Länder. Deswegen sei der britische Plan auch so toll, schwärmt Glyn Hayes, Arzt und Berater der British Computer Society, in einem Branchenblatt. Er ist sich sicher: Wenn das Projekt erfolgreich ist, wird das britische Gesundheitssystem dem Rest der Welt bis zum Jahr 2008 überlegen sein. Doch über dem hoch ambitionierten Projekt ziehen sich die ersten Wolken zusammen (siehe Kasten).
Welchen Platz die Schweiz im weltweiten Ranking der E-Healthcare betreibenden Nationen dereinst einnehmen wird, wissen wir nicht. Klar ist hingegen, dass eine Generalstabsübung, wie sie Britannien vorexerziert, nicht möglich ist. Da kommt uns neben vielen anderem bereits der Föderalismus in die Quere. Hier zu Lande muss in unzähligen Gremien und über verschiedene Instanzen hinweg nach Lösungen gerungen werden. Mit entsprechend kleinen Schritten geht es voran.


Tarmed-Spätfolgen

Ein Beispiel dafür ist der elektronische Datenaustausch, der in der Schweiz nicht so recht in Schwung kommen will. Im Gegenteil, hier scheinen die Möglichkeiten der Digitalisierung alte Gräben aufzureissen und den medizinischen Apparat noch monströser machen zu wollen. Gemeint sind Kollateralschäden, die mit der Einführung des neuen Arzttarifs Tarmed auf den 1. Januar 2004 entstanden und noch nicht aus dem Weg geräumt sind.
Der Hindergrund: In zwei Jahren spätestens müssen Spitäler, praktizierende Ärzte, Apotheken und Labors ihre Rechnungen auf elektronischem Weg den Krankenkassen übermitteln. Bei jährlich total 45 Millionen Rechnungen ergibt sich ein geschätztes Einsparpotenzial von 200 bis 300 Millionen Franken – allein durch den Wegfall von Administrations- und Portokosten. Dies soll ohne einen Abbau medizinischer Leistungen geschehen. So weit so erfreulich – zumindest in der Theorie.


Machtkämpfe statt Einsparungen

Die Praxis sieht weniger erfreulich aus. Denn die Kassen und die Ärzte liefern sich einen erbitterten Machtkampf um die Art und Weise, wie die elektronischen Rechnungen übermittelt werden sollen. Beide Parteien haben ihre eigenen Systeme aufgebaut, die untereinander nicht kompatibel sind.


Versicherer zum ersten

Bereits 1994 haben die Versicherer Helsana und Suva sowie IBM die Firma Medidata ins Leben gerufen, deren Aktionariat in der Zwischenzeit um die Winterthur, CSS, Concordia und Groupe Mutuel sowie zahlreiche Spitäler und den Schweizerischen Apothekerverband angewachsen ist. Medidata schwebt vor, dass sämtliche Leistungserbringer im schweizerischen Gesundheitswesen über die von ihr ins Leben gerufene Plattform abrechnen.


Versicherer zum zweiten

Doch gegen diese Pläne formiert sich Widerstand – auch aus den eigenen Reihen. So wehrt sich laut einem Bericht der «NZZ am Sonntag» die Centris AG, welche für Swica und andere Kassen IT-Dienstleistungen erbringt, gegen die Bezahlung von 50 Rappen pro Rechnung, welche die Medidata verlangt. Statt einem intermediären Rechnungscenter (Modell Medidata) Gebühren zu zahlen, möchte die Centris lieber die Spitäler, Ärzte und Labors direkt miteinander verbinden.
Andere Mitspieler in diesem Game sind etwa auch der US-IT-Gigant EDS, an den 11 Schweizer Spitäler ihre Informatik ausgelagert haben.


Ärzteschaft im Alleingang

Aber auch die Ärzte haben in eine elektronische Rechnungslösung investiert. Sie befürchten, dass die Versicherer mit Medidata ein Monopol aufbauen möchten. Darum werfen sie die Firma Newindex in die Schlacht, die vollständig von den Standesorganisationen FMH und den kantonalen Ärztegesellschaften kontrolliert wird. Im Unterschied zu Medidata, die ein einziges Rechencenter betreibt, leisten sich die Mediziner für ihr System schweizweit deren 11 Trust-Center (!), an die rund 6500 Ärzte angeschlossen sind.


Andere Abläufe

Der fundamentale Unterschied zwischen den beiden Systemen liegt aber nicht in der geographischen Organisation, sondern in völlig anderen Abläufen. Newindex basiert auf dem sogenannten «Tier-Garant-System», das den Patienten ins Zentrum stellt. Der Arzt schickt dem Patienten die Rechung und dieser leitet sie weiter an seine Versicherung.
Bei Medidata dagegen kommt der so genannte «Tier Payant» zum Einsatz, der den direkten Versand der Rechnung vom Leistungserbringer zum Kostenträger (Krankenversicherung) vorsieht, mit einer Kopie an den Patienten. Es ist dann die Versicherung, die vom dem Versicherten das allenfalls zu viel bezahlte Geld einfordern muss.




Spitalinformatiklösungen


Datenkontrolle

Für die Ärzte ist das Medidata-System in doppelter Hinsicht unbefriedigend. Erstens glauben sie, dass der Datenschutz nur mittels einem durch sie kontrollierten Trust-Center eingehalten werden könne. Der aus Ärztesicht aber wesentlich entscheidendere Grund dürfte allerdings die Angst sein, wichtige Daten aus der Hand geben zu müssen. Die Aufbereitung von aussagekräftigen Statistiken, die bei Tarifverhandlungen zu Hilfe gezogen würden, könnte die Ärzteschaft so nicht mehr in Alleinregie bewerkstelligen.


Drohende Medienbrüche statt Einsparungen

Im Streit zwischen den Krankenkassen und den Ärzten gibt es keine Anzeichen für eine Annäherung. Das würde im schlimmsten Fall bedeuten, dass die versprochenen Einsparpotentiale durch Doppelspurigkeiten aufgefressen oder im schlimmsten Fall ins Gegenteil gekehrt werden. Dies wäre dann der Fall, wenn auf Grund inkompatibler Systeme weiterhin Medienbrüche auftreten würden. Dies wäre insofern ein Drama für die elektronische Rechnungslegung in der Schweiz, weil alle Parteien nach dem gleichen Standard elektronisch abrechnen, dem Tarmed.


Kritik an Mammutprojekt in England

Das britische Gesundheitsministerium will mit einem riesigen IT-Programm die komplette IT-Topologie des National Health Service (NHS) erneuern. Das Projekt wird auf etwa 7,6 Milliarden Euro geschätzt. Es gilt als das grösste IT-Projekt der Gegenwart. Entsprechend stolz sind die Briten drauf. Nun sorgt ein Bericht eines Experten für Unruhe. Er wirft den Projektverantwortlichen vor, bei der Realisierung des Vorhabens zu wenig koordiniert vorzugehen und häufig den Sinn und die Effizienzgewinne von Teilprojekten nicht nachgewiesen zu haben.




Das in London ansässige Institute for Public Policy Research (IPPR) und dessen Autor Jamie Bend äussern in dem Report «Public Value and e-Health» erhebliche Vorbehalte bezüglich des Vorhabens des NHS. Sie anerkennen zwar die Vorteile einer kompletten Computer- und Softwarerenovierung, stellen diese aber in Bezug zu den Nachteilen, die erheblich seien. Sie stellen insbesondere den Sinn und die Effizienz verschiedener Unterprojekte in Frage, weil sie in keiner Weise belegt seien.
Als Beispiel führt der Autor die elektronische Patientendatenbank an. Das Pilotprojekt basiert auf einer Oracle-Datenbank und wird von der BT Services integriert. Bis heute sei es nicht erwiesen, welche Vorteile aus diesem Projekt erwachsen sollen, klagt die Studie. Ziel ist es, die Patientendaten von rund 50 Millionen Engländern zu erfassen und diese Daten etwa 30'000 Ärzten zugänglich zu machen. Bis zum Jahr 2008 sollen über dieses System pro Jahr fünf Milliarden Transaktionen abgearbeitet werden können.






Tests hätten bis heute nicht belegen können, dass dieses System die Dienstleistungsqualität verbessern könnte. Auch wird in Frage gestellt, ob sich dadurch Kosten sparen liessen und ob die Behandlung der Patienten in irgendeiner Weise verbessert werden könnte. Der Datenbankkoloss soll dem Patienten auch die Suche nach einem Arzt vereinfachen und bessere Anmeldungsmöglichkeiten bieten – doch auch dieses Versprechen sei womöglich nicht zu halten. Der heftige Verriss basiert auf der Auswertung von über 40 verschiedenen Reports, die sich mit Teilbereichen des NHS-IT-Projekts befasst haben. Neben der elektronischen Patientendatenbank bemängelte der Autor fünf weitere Unterprojekte.





Experten wie Murray Bywater von Silicon Bridge Research erstaunen diese Befunde nicht. Sie führen die Misstände auf die schiere Grösse des britischen NHS zurück, der 1,4 Millionen Beschäftigte zählt. Die Verwirrung, welche die in das Riesenprojekt involvierte Parteien verspüren, sei nur ein Abbild der inneren Zustände des britischen Gesundheitswesens. Es komme der Verdacht auf, dass IT dafür hinhalten soll, um Probleme bei Geschäftsprozessen zu lösen. Dass dies so einfach nicht geht, haben vor dem NHS schon ganze Branchen erfahren müssen.


Pacs, das digitale Bild-Archiv in Spitälern

An Zürichs zentralen Spitälern (Universitätsspital, Stadtspital Triemli und Kantonsspital Winterthur) sollen Röntgenbilder künftig elektronisch gespeichert werden. Noch werden sie wie seit mehr als hundert Jahren in Form von belichteten Filmen aufbewahrt. Nach langem Zögern hat der Regierungsrat im Frühling einen entsprechenden Kredit in der Höhe von 14,1 Millionen Franken bewilligt. Das Tripacs genannte Projekt soll Röntgenbilder, aber auch biometrische Daten (EKG, Laborwerte etc.) speichern, verwalten, darstellen und übermitteln können. Das Ziel ist es, die Bilder nicht nur innerhalb der Spitäler zugänglich zu machen, sondern auch praktizierenden Ärzten zur Verfügung zu stellen. Diese medizinischen Bildarchive nennt man im Fachjargon Pacs (Picture Archiving and Communication System). Die Zürcher Spitäler haben sich für ein Produkt des Herstellers Agfa entschieden.






Dank vereinfachter Abläufe soll die Bewirtschaftung der Bilder mittelfristig billiger sein als mit dem klassischen System. Einzelne Stellen könnten so gestrichen werden. 2007 wird das System betriebsfähig sein und kostet 16,3 Millionen Franken. In Teilbereichen wird es bereits jetzt eingesetzt, etwa dort, wo moderne Magnetresonanz-Diagnostikmaschinen derart viele Bilder produzieren, dass die geräteeigenen Speicher an ihre Grenzen stossen. Das Pacs für das Kantonsspital und die Universitätskliniken in Basel ist auf 6,4 Millionen Franken budgetiert und soll ebenfall 2007 in Betrieb genommen werden. Die Basler erhoffen sich jährliche Einsparungen in der Höhe von total 3,2 Millionen Franken – der grösste Spareffekt ergibt sich durch den Wegfall der Filme (-1,1 Mio Fr), gefolgt von den Personalkosten (-700'000 Franken), geringerer Suchaufwand (-900'000 Franken) und Platzeinsparung/Miete (-500'000 Franken).




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