Editorial

Wohin mit all den E-Mails?

Seien wir ehrlich: Wir können ohne elektronische Post nicht mehr arbeiten. Doch wir denken selten über unsere täglichen Erfahrungen hinaus.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/20

     

Seien wir ehrlich: Wir können ohne elektronische Post nicht mehr arbeiten. Wir halten sie für eine gute Einrichtung. Natürlich lassen wir uns hin und wieder von E-Mails unter Druck setzen, kommen mit der "nonverbalen" Kommunikation nicht zurecht und haben ab und zu technische Probleme. Doch wir denken selten über unsere täglichen Erfahrungen hinaus.



So realisieren wir häufig nicht, welche Nachteile E-Mails haben. Sie sind zum Beispiel beständig: Ist eine E-Mail erst einmal versandt, lässt sie sich meist nicht mehr aus der Welt schaffen. Das führt zu Problemen. Es fängt damit an, dass jeder, der E-Mails für geschäftliche Zwecke braucht, sie nicht einfach löschen darf, wenn er sie gelesen hat. Denn für elektronische Post gilt dasselbe wie für Papierpost: Geschäftskorrespondenz muss von Gesetzes wegen während zehn Jahren aufbewahrt werden und jederzeit einsehbar sein. Daran hat möglicherweise sogar der Besitzer selbst ein Bedürfnis.




Doch was tun mit der Post? Die E-Mail-Programme sind als Archive nur bedingt geeignet. Werden die Mail-Postfächer zu gross, droht irgendwann der Absturz und damit der Datenverlust. Oder das System wird erheblich belastet und verlangsamt. Die Auslagerung in spezielle Archivdateien ist da schon etwas besser, aber oft keine langfristige Lösung. Das gilt erst recht, wenn ein E-Mail-System nach einigen Jahren abgelöst wird. Wer es richtig machen möchte, müsste sich im Grunde eine professionelle Dokumentenverwaltungslösung anschaffen und betreiben, was freilich das Budget mancher Unternehmen überstrapaziert. Zudem sollen E-Mails die Arbeit erleichtern, Zeit und Kosten sparen - und nicht das Gegenteil bewirken.


Der Umweg übers Papier

Hat uns die elektronische Post also einen Pyrrhussieg beschert? Weil E-Mails so einfach in die Welt gesetzt werden können, wird das fleissig getan, mit der Folge, dass die Nachbearbeitung der Post umso mehr Zeit und Geld in Anspruch nimmt und der Aufwand schlussendlich höher sein kann. Die meisten Unternehmen wählen derzeit jedenfalls die altmodische Ablagemethode: Sie lassen die E-Mails ausdrucken und in Papierform ablegen. Diese Arbeit wird den Sekretariaten überlassen, die dadurch je nach Aufkommen an E-Mails und Dateianhängen täglich ein, zwei oder mehr Stunden nur damit verbringen, Berge von Papier zu produzieren, zu sortieren und abzulegen.



Diese Arbeit ist zwar undankbar und langweilig, verlangt aber Kenntnisse der Sachverhalte in den E-Mails und ist darum nur beschränkt delegierbar. Dies gilt umso mehr, als E-Mails anders als Papierbriefe mangels klarer Referenzen oft nur im Zusammenhang zu verstehen sind. In einem mittelgrossen Schweizer IT-Projekt kann die elektronische Post, die ich selbst als externer Rechtsberater erhalte, einschliesslich der mitgesandten Vertragsentwürfe und Spezifikationen, durchaus Stapel von ein bis zwei Meter Papier generieren, wenn alles ausgedruckt wird.




Die Antwort kann letztlich nur die elektronische Speicherung sein, doch ich bin mir bewusst, dass es dazu einen Entwicklungsprozess braucht, der noch am Anfang steckt. Denn welches Management interessiert sich schon dafür, was mit den Mails geschieht, wenn sie gelesen sind?




E-Mails leben länger

Weil dem so ist, entsteht ein nächstes Problem. Die meisten Benutzer von E-Mails sind sich nicht bewusst, dass ihre E-Mails oft ein wesentlich längeres Leben führen, als ihnen lieb sein mag. Eine unbedachte Äusserung mittels elektronischer Post ist rasch geschehen und mag Jahre später plötzlich wieder auftauchen. Gerade in jüngster Zeit wurde das in prominenten Fällen wieder deutlich: Bill Gates, der es als Herausgeber des meistbenutzten E-Mail-Programmes eigentlich besser wissen müsste, tappt regelmässig in die Falle. Seine E-Mails sind in Prozessen gegen Microsoft beliebte Beweismittel (Firmen können durch das Gericht gezwungen werden, sie offenzulegen). Das war zuletzt so, als Gates die Unterstützung Microsofts in einer Branchengruppierung davon abhängig machte, dass Sun keinen grossen Einfluss erhält. Einen Monat zuvor kam ein ungünstiges Mail ans Licht, in der Gates Massnahmen gegen Konkurrent RealNetworks beschreibt.



Es geht nicht nur Microsoft so. In Kalifornien macht derzeit Oracle mit einem Skandal um eine unsaubere Vertragsvergabe durch den Bundesstaat Schlagzeilen. E-Mails spielten eine Schlüsselrolle. Interne elektronische Post kostete Merrill Lynch derweil 100 Mio. Dollar an "freiwilliger" Strafe: Das US-Finanzhaus hatte High-Tech-Titel zum Kauf empfohlen, die Analysten in internen E-Mails als "Scheiss-Aktien" bezeichneten. Die E-Mails kamen der Staatsanwaltschaft in die Hände, und der Skandal war perfekt. In vielen Rechtsstreitigkeiten sind E-Mails wertvolle Beweise geworden.




Das alles führt mich zu zwei Schlussfolgerungen: Erstens sollten Unternehmen sich mit der Archivierung von E-Mails etwas ernsthafter auseinandersetzen und sich dabei Gedanken machen, was wirklich aufbewahrt werden muss. Zweitens sollte sich jeder bei seiner nächsten Mail überlegen, was geschehen würde, wenn sie nicht nur dem Empfänger zu Gesicht kommen würde. Dabei kennen Dritte den Zusammenhang und den Stimmungszustand nicht, in der die E-Mail geschrieben wurde, und werden sie womöglich auch anders verstehen. Für solche Gespräche gibt es bessere Orte als den Cyberspace.



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