Editorial

Machtspiele per E-Mail

Kleider machen bekanntlich Leute. Doch wie steht es damit in der heutigen Bürowelt, in einer Welt, die zusehends von virtuellen Begegnungen in irgendwelchen elektronischen Netzen lebt?

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/09

     

Kleider machen bekanntlich Leute. Doch wie steht es damit in der heutigen Bürowelt, in einer Welt, die zusehends von virtuellen Begegnungen in irgendwelchen elektronischen Netzen lebt? Auch hier hat der Grundsatz seine Gültigkeit, auch wenn es nicht mehr nur die Kleider sind, an denen sich der Status der Personen erkennen lässt.



Eine Studie aus den USA, von der ich kürzlich las, hat mir die Augen geöffnet. Sie stammt von der Vanderbilt University aus Nashville im US-Bundesstaat Tennessee und untersuchte 30'000 E-Mails einer kollabierten High-Tech-Firma in Kalifornien. Ziel der Untersuchung war es, einen Zusammenhang zwischen dem Stil von E-Mails und dem Rang einer Person herauszufinden.


Klassenkampf

Mit Erfolg: Die Untersuchung bestätigte, dass auch in den heutigen Unternehmen der Klassenkampf zwischen dem oberen und mittleren Kader sowie den unteren Chargen tobt. Und er ist in gewisser Hinsicht sogar noch ausgeprägter geworden. Zwar haben sich die Hierarchien verflacht, mancherorts sind die Titel sogar weggefallen. Doch das hat die informelle Kommunikation und auch den eigenen Status einer Person umso wichtiger werden lassen. In der elektronischen Post der einzelnen Leute kommt dies besonders gut zum Ausdruck. Auch E-Mails machen Leute.



Zwar warnen die Verfasser der Studie ausdrücklich davor, ihre Ergebnisse direkt dazu zu verwenden, um die eigenen E-Mail-Gewohnheiten "günstig" anzupassen. Was aber unterscheidet die firmeninternen E-Mails der Chefs von ihren Untergebenen?





• E-Mails von Oben sind schludrig geschrieben und formatiert. Sie enthalten immer wieder Flüchtigkeitsfehler, wie sie allen passieren. Die Chefs korrigieren sie aber oft nicht. Das bedeutet laut Studie soviel wie "Ich bin zu beschäftigt, um mich um die Rechtschreibung oder Interpunktion zu kümmern". Ein solches informelles Verhalten ist der Untersuchung zufolge ein sehr guter Indikator für hohen Status.




• E-Mails aus der Führungsetage sind sehr knapp. Manchmal bestehen sie nur aus einigen Worten. Das unterscheidet sie von der elektronischen Post des mittleren Managements. Letztere sind oft lang und leidenschaftlicher abgefasst. Will heissen: "Jetzt rede ich". Kaderangestellte im mittlere Management können sich auf diese Weise jenes Gehör verschaffen, das sie an Sitzungen nicht haben, weil ihnen die Chefs übers Maul fahren. Allerdings exponieren sich die "mittleren Manager" auf diese Weise auch stärker - ihre Mails sind häufig auch emotionaler; persönliche Angriffe sind nicht selten.




• Die E-Mails vom Chef haben keine oder keine ausführliche Signatur. Gemeint ist das Anhängsel am Ende eines E-Mails, das nebst der üblichen Adresse den Namen und oft auch Angaben zu Rang und Funktion enthält. Der Chef hat das nicht nötig: Man weiss, wer er ist. Er fügt seinen E-Mails auch keinen persönlichen Wahlspruch an.




• Bei wichtigen Entscheiden verzichtet der Chef auf E-Mails und setzt auf altmodische Sitzungen oder persönliche Gespräche. Denn dort kann er seine Macht sehr viel besser ausüben. Doch auch in Diskussionsforen kommen die laut Studie typischen Chefeigenschaften Kontrolle, Koordination und Dominanz voll zur Geltung. So seien Chefs keineswegs a priori abgeneigt, wichtige via Intranet abgehaltene Diskussionen zu moderieren, weil sie bestimmen können, wer zu Wort kommt und wer nicht.




• Chefs haben auch einen Hang dazu, innere Kreise der Mail-Kommunikation zu bilden, indem sie genau wählen, wem sie E-Mails direkt, in Kopie oder gar nicht senden. Der Kreis der Empfänger wird klein gehalten; im Gegensatz zu anderen Personen verwenden sie die Kopie-Funktion (CC, BCC) unterdurchschnittlich.




• Auch Chefs senden E-Mails zuweilen spät abends. Doch bevorzugt tun dies Angestellte im mittleren Kader. Für die Autoren der Studie scheint klar: Damit wird dem Vorgesetzten demonstriert, wie lange man arbeitet. Das ist beim Personal in den unteren Rängen wiederum anders: Lange E-Mails sind nicht selten, beschäftigen sich aber vielfach mit Themen, die mit der Arbeit gar nichts zu tun haben und dem Chef, würde er sie je sehen, keinen guten Eindruck hinterlassen.


Kein Platz für Emoticons

Wer es im Unternehmen in die oberen Ränge schaffen möchte, sollte auch auf Emoticons in den E-Mails verzichten. Solche Zeichenfolgen wie ";-)" werden laut Studie vor allem von den einfachen Angestellten in ihren E-Mails verwendet. Die Chefs würden sie ohnehin nicht verstehen, was die Gefahr von Missverständnissen zu eigenen Ungunsten nur unnötig erhöht.



Wahre Chefs löschen zwar ihre E-Mails meist unbekümmert, sobald sie sie überflogen haben oder sie diese für ihre Aufmerksamkeit zuwenig würdig halten. Doch im mittleren Management findet sich zweifellos ein Empfänger, der eine verfängliche E-Mail für spätere Zeiten aufbewahren wird. Jetzt weiss ich auch, warum gewisse E-Mail-Programme die Möglichkeit einer Zustellverzögerung bieten. So kann eine Sendung vor dem definitiven Versand zurückgezogen werden. Ein richtiger Chef braucht das allerdings nicht.



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