Windows Live - Web 2.0 à la Microsoft
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/18
Unter dem Allerweltsnamen Windows Live hat Microsoft in den letzten Monaten relativ unbemerkt von der IT-Öffentlichkeit eine komplette Produktpalette aus dem Boden gestampft, die in der Zukunft des Konzerns eine zentrale Rolle spielen soll. Gemeinsame Merkmale sind, dass alle Anwendungen browserneutral über das Web angeboten werden, typische «Web 2.0»-Merkmale besitzen, die Authentifizierung (sofern erforderlich) über Windows Live ID (vormals Passport) erfolgt und nicht alle Angebote kostenlos sind.
Das Web befindet sich seit einiger Zeit in einer rasanten Entwicklungsphase. Unter dem Schlagwort «Web 2.0» entstehen beinahe wöchentlich attraktive neue Angebote, die dank relativ einfacher und vor allem seit Jahren existierender Technologien wie Ajax, XML, RSS, CSS und JavaScript bislang eher statischen Web-Anwendungen «Leben» einhauchen und ihnen das typische Verhalten von Desktop-Anwendungen verleihen. Eine Web-2.0-Anwendung zeichnet sich dadurch aus, dass Daten aktualisiert werden, ohne dass die Seite erneut geladen werden muss, dass Informations-Feeds (meistens im RSS-Format) in die Seite eingeblendet werden, dass die Anwendung eine sehr viel reichhaltigere Interaktion anbietet als eine typische Webseite und der Anwender zum Beispiel Elemente innerhalb der Seite mit der Maus verschieben kann. Web 2.0 steht für einen Satz lose verbundener Techniken, die es bereits seit Jahren gibt. Von diesen Techniken profitieren nicht nur vollkommen neue Webangebote, sondern auch die klassischen Websites. Bei einer Ortssuche ist es beinahe selbstverständlich, dass sich in die Karte je nach Anwenderwunsch Informationen über Tankstellen, Restaurants, Sehenswürdigkeiten, öffentliche Verkehrsmittel und vieles andere mehr einblenden lassen.
Die neuen Angebote sind nicht nur ein Beweis einer neuen Kreativität im Web, dahinter steht ein riesiges Einnahmepotential, vor allem durch Werbung. Dies hat auch der Microsoft-Konzern längst erkannt und möchte sich mit seiner (relativ) neuen Windows-Live-Plattform endlich selber ein möglichst grosses Stück am lukrativen Kuchen der Werbemilliarden abschneiden, die Jahr für Jahr auf das Konto von Google, Yahoo, YouTube, Flickr, Salesforce.com und einigen anderen der «Web 2.0»-Avantgarde fliessen. Neben einem neuen Geschäftsmodell geht es dem Software-Hersteller aus Redmond auch (oder vor allem) darum, die Dominanz von Google zu brechen, die nicht nur beinahe wöchentlich neue und teilweise sehr innovative Dienste testen, sondern mit Google Desktop, Google Spreadsheets und demnächst Google Writely die scheinbar uneinnehmbare Festung des Microsoft-Desktop-Monopols angreifen. Auch wenn Microsoft-Verantwortliche dies niemals offiziell zugeben würden, der eine oder andere Wutausbruch von Microsoft-Chef Steve Ballmer in Richtung Mountain View, vor allem aber die strategische Ausrichtung der neuen Live-Dienste geht ganz klar in diese Richtung.
Microsofts Antwort auf Web 2.0 heisst Windows Live. Hinter diesem irgendwie vertraut klingenden Begriff, der im Herbst 2005 offiziell vorgestellt wurde und der mit dem Betriebssystem Windows rein gar nichts zu tun hat, steht eine Vielzahl von Diensten, die über das Web angeboten werden und von denen sich einige noch immer im Testbetrieb befinden (siehe Tabelle «Windows Live Services im Überblick»). Ausgangspunkt im Web ist http://live.com – hier kann sich jeder aus einem umfangreichen Angebot an «Informationsfeeds» seine eigene Homepage zusammenstellen, wobei das Anordnen per Drag&Drop sehr schön gelöst ist. Viele Dienste sind kostenlos, andere, wie der Virenschutz OneCare, kostenpflichtig. Manche der Live-Dienste, wie beispielsweise Live Mail, wirken recht vertraut, da sie direkt aus den MSN-Diensten (z.B. MSN Hotmail) hervorgegangen sind, andere wie http://local.live.com oder http://expo.live.com wurden komplett neu entwickelt und stehen auch bezüglich ihres Inhalts für eine neue Generation an Web-Angeboten. Alle Live-Dienste sind grundsätzlich browserunabhängig, wenngleich der Browser gewisse Mindestanforderungen erfüllen muss. Die Hype-Technologie Ajax ist zwar involviert, es hängt aber vom jeweiligen Dienst ab, ob und in welchem Umfang die typischen Web-2.0-Techniken zum Einsatz kommen.
Ein sehr schönes Beispiel für die Richtung, die der Konzern mit Windows Live einschlagen möchte, ist http://expo.live.com. Unter dieser Adresse bietet Microsoft einen bunten Marktplatz für Kleinanzeigen an, auf dem man unter anderem Wohnungen mieten, Boote kaufen oder Tickets tauschen kann. Die Angebote werden nicht nur in Abhängigkeit des aktuellen Aufenthaltsortes präsentiert, es ist ferner möglich, sie auf Bekannte zu beschränken. Interessant ist die Integration von PayPal des Konkurrenten eBay, denn vor Jahren hätte Microsoft vermutlich noch versucht, einen eigenen Bezahldienst zu etablieren.
Auch für 3rd-Party-Entwickler gibt es Möglichkeiten, an der Live-Plattform zu partizipieren. Zur Zeit aber nur in der Form, dass Entwickler sogenannte Gadgets programmieren können, die aus einem Mix aus JavaScript und XML bestehen und die auf der Windows-Live-Homepage (und nur dort) «gehostet» werden. Zur Unterstützung gibt es ein kleines Software Development Kit (SDK), das aber lediglich aus ein paar Beispielen besteht. Dennoch ist es erstaunlich, wie viele Einfallsreichtum findige Webprogrammierer bereits bewiesen haben. Unter http://microsoftgadgets.com/ gibt es einiges zu bestaunen. Das .Net Framework, das vor der neuen «Live-Welle» Dreh- und Angelpunkt der Microsoft-Strategie war, spielt für die Live-Plattform allenfalls indirekt eine Rolle im Zusammenhang mit Microsofts Ajax. Da die Live-Gadgets in jedem Browser laufen müssen, werden sie ausschliesslich mit JavaScript programmiert.
Die Windows-Live-Dienste sind noch zu jung, um eine Erfolgsbewertung abgeben zu können. Microsoft ist offenbar fest entschlossen, sowohl Google als auch den zahlreichen Web-2.0-Newcomern Konkurrenz in ihrem eigenen Terrain zu machen, indem es zu praktisch jedem Web-2.0-Angebot ein mindestens gleichwertiges Live-Angebot präsentiert. Geld verdienen will man aber nicht nur mit kostenpflichtigen Abodiensten und den erhofften Werbe-Milliarden, sondern auch durch Dienste, die in Konkurrenz zum bisherigen Geschäftsmodell des Softwarekonzerns treten. Ein Bereich, der sich zurzeit noch in der Testphase befindet, ist «Office Live». Hier sollen KMU auf der Basis der SharePoint-Technologie neben WebSpace auch die typischen Kollaborationsdienste wie Kalender, Foren und Dokument-Sharing zur Verfügung gestellt werden. Mit einem «Office Online» hat dies aber nichts zu tun. Diese heilige Kuh steht offenbar auch im Rahmen des Windows-Live-Portfolios zurzeit nicht zur Disposition. Interessant ist in diesem Zusammenhang das jüngst angekündigte Dynamics-CRM-Live-Angebot, durch das man die Funktionalität des eigenen CRM-Pakets Dynamics ähnlich wie heute bereits bei SalesForce.com anbieten möchte. Während die meisten Live-Angebote in erster Linie jenen Typ von Webanwender anspricht, der hier seine Zeit «ausgibt», wird dieses Angebot massgeblich darüber entscheiden, ob Microsoft mit Services über das Internet auch Geld verdienen kann.
Windows Live deutet in Konturen an, wie sich der Softwareriese mit einer «Software als Service»-Strategie in einer nicht allzu fernen Zukunft nach einer weitreichenden und sicher auch risikoreichen Umstrukturierung als Internet-Company neu erfinden könnte.
Ob Microsoft damit Erfolg haben wird ist eine Frage, die heftig und kontrovers diskutiert wird. Google & Co werden den Redmondern ihr Terrain nicht kampflos überlassen und mit neuen und noch innovativeren Services kontern. Das neue Live-Angebot wird von Analysten als ein erster Gehversuch eines Software-Konzerns gewertet, der den Grossteil seines Umsatzes mit dem Verkauf von Softwarelizenzen macht und der sich in der Vergangenheit stets schwer tat, auf die Herausforderung Internet zu reagieren. Dass dieser Weg kein leichter ist, machte die heftige Reaktion der Wallstreet im August dieses Jahres auf die Ankündigung der Microsoft-Geschäftsführung deutlich, zusätzlich 2 Milliarden Dollar ausgeben und in den nächsten zwei bis drei Jahren etwa 10’000 neue Mitarbeiter einstellen zu wollen, um das Live-Projekt
voranzutreiben. Was hierzulande Politikern Tränen der Freude in die Augen treiben würde, führte aufgrund des damit verbundenen indirekten Eingeständnisses, die gesteckten Ziele nicht ohne einen erheblichen Mehraufwand erreichen zu können, zu einem massiven Kurssturz der Microsoft-Aktie, der das ehrgeizige Live-Projekt intern ins Schlingern brachte. Wie schwer sich der Konzern mit dem Internet tut, beweist das im Herbst 2001 grandios gescheiterte Hailstorm-Projekt (offiziell .Net My Services), einem Vorläufer von Windows Live, mit dem man damals das Web kommerziell aufrollen wollte. Der Kopf des Projekts, Microsoft Chef-Entwickler und Distinguished Engineer
Marc Lucovsky, hat inzwischen das Unternehmen verlassen und arbeitet für Google. Der von Microsoft-Gründer Bill Gates damals versprochene «new level of excitement» blieb vorerst aus, es war den Pionieren des Web 2.0 vorbehalten, ihn zu realisieren. Doch Microsoft wäre nicht so erfolgreich, wenn es dem Konzern nicht jedes Mal erneut gelingen würde, aus chronischem Zuspätkommen ein Milliardengeschäft zu machen.
Windows Live Services im Überblick