Visitenkarten mit Zukunft
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/01
Im Geschäftsleben sind Visitenkarten äusserst wichtig, und als weltgewandte Geschäftsleute wissen wir natürlich, dass in Japan das kleine Kärtchen als Zeichen der Wertschätzung zweisprachig sein soll, mit beiden Händen überreicht werden muss und auf jeden Fall so herum, dass der Gesprächspartner es sofort lesen kann. Dass eine zerknitterte Karte nicht gerade den besten Eindruck hinterlässt oder handschriftliche Korrekturen darauf nichts zu suchen haben, muss gar nicht erst erwähnt werden. Denn schliesslich sind Visitenkarten das einzige, was übrigbleibt, wenn das Meeting oder die Messe vorüber sind. Lediglich dieses Stück Karton hat unser Gesprächspartner in den Händen, um sich an uns zu erinnern.
In der besseren Gesellschaft des 18. Jahrhunderts - der Geburtsstunde der Visitenkarte - war es üblich, den Dienstboten seine Karte zu überreichen, die diese dann dem Hausherrn überbrachten. Erst dann fand man Einlass in die besseren Häuser. Am Tag nach einer Einladung konnte die übersandte Visitenkarte einen persönlichen Dankesbesuch ersetzen oder mit einem wirklich guten Namen darauf sogar als Zahlungsmittel gebraucht werden.
Wie jeder gesellschaftliche Umgang lebt auch die Visitenkarte von Nuancen: So soll die Karte nie protzig oder bunt daherkommen, die Standardmasse von 54 x 85 mm dürfen weder über- noch unterschritten werden, und alle Informationen müssen auf einer Seite zu finden sein.
In Zeiten des Networking erlebt nun die Visitenkarte einen neuen Boom, gipfelnd in sogenannten Visitenkartenpartys, die zu nichts anderem dienen, als Karten auszutauschen und so potentielle Geschäftspartner kennenzulernen. Die Business Card wird damit zum Spiegel unserer Identität. Dieser Gedanke hat ein Team der Design-Firma Ideo dazu bewogen, das seit mehreren hundert Jahren mehr oder weniger unveränderte Stück Karton dem digitalen Zeitalter anzupassen. Die Designer nutzen dabei die neuesten Technologien von decodierbaren Barcodes bis hin zu drahtloser Informationsübertragung oder DNS-Informationen. Damit wird sich die Visitenkarte der Zukunft beispielsweise selber aktualisieren können, bereits den Termin für das nächste Treffen oder eine Kurzbiografie enthalten.
In den Ideo-Labors wird die Business Card fleissig zum multifunktionalen Ausweis weiterentwickelt. Die "Identity Card" beispielsweise besteht aus zwei dünnen transluzenten Siliziumschichten, in die ein Haar des Besitzers eingeschweisst (Hair Card) oder ein Behälterchen für einen Bluttropfen (Blood Card) eingelegt werden kann, was die Identität des Übergebenden garantieren soll. Damit der Empfänger mit den Daten auch etwas anfangen kann, hat der Ideo-Mitarbeiter Marcus Gosling einen Scanner mit transzendentaler Komponente entworfen: Sobald die Karte eingescannt ist und die Informationen automatisch in die Adresskartei des PCs oder mobilen Geräts übertragen sind, wird sie aus Sicherheitsgründen von dem "Krematorium im Taschenformat" zu Asche verbrannt. Bis im Jahr 2010 sollen solche Scanner zur Standardausrüstung von Sitzungsräumen gehören.
Um sich noch besser an sein Gegenüber erinnern zu können, hat Designer Steve Heron seine High-Tech-Visitenkarte mit einer Kamera kombiniert: Einfach die Folie über der integrierten Lochlinse abziehen, schon ist das Bild auf Fotopapier festgehalten.
Die Seed Cards wachsen, wenn man sie pflegt - genau wie Geschäftsbeziehungen das nur dann tun, wenn man sie hegt. Der Erfinder Rico Zörkendörfer: "Eine Seed Card, die stirbt, sagt eine Menge aus über die Wichtigkeit einer Beziehung."
Weitere High-Tech-Karten wie beispielsweise die Onion Card oder die Listening Card und deren Funktionsweisen können unter www.ideo.com/identity/introduction.htm bestaunt werden.
Ob mit den neuen Visitenkarten das grosse Geschäft gemacht werden kann, wird sich zeigen. Jedoch mindestens die Duden-Herausgeber könnten davon profitieren, denn "sich in die Haare geraten" oder "Blut sehen wollen" bekommt doch eine etwas andere Bedeutung, als wir uns das gewohnt sind. Auch über eine Neuauflage der Winnetou-Filme müsste diskutiert werden: Brüderliches Blutaustauschen wird zum täglichen Business-Gebrauch - nur bleibt die Indianer-Romantik dabei auf der Strecke.
Ideo ist eine Firma für innovatives Design und Strategien. Der Ideo-Gründer David Kelley war massgeblich an der Entwicklung der ersten kommerziellen Computer-Maus für Apple beteiligt. Der Mitgründer Bill Moggridge entwarf den ersten Laptop für Grid. Zu den weiteren Ideo-Entwicklungen gehören der Palm V oder die Logitech-Digitalkameras Pocket Digital Camera und QuickCam for Notebooks Pro. Auch Laden- und Büroeinrichtungen (z.B. Prada New York, Xerox und HP), Zyliss-Küchengeräte oder die Oral-B-Zahnbürsten kommen von Ideo. Zu den wichtigsten Kunden gehören 3Com, 3M, BMW, Cisco Systems, Handspring, Lufthansa, McDonald's, Microsoft, NASA, Nike, Pepsi-Cola, Polaroid, Procter & Gamble und Samsung.
Die Firma beschäftigt weltweit rund 350 Leute, konnte in der Vergangenheit diverse Auszeichnungen für innovatives Design entgegennehmen und wurde zehn Jahre in Folge mit dem Industrial Design Excellence Award ausgezeichnet.
Kein Unternehmen wird behaupten, dass es nicht mehr Kreativität im Denken, mehr Prozess- und Produktinnovationen benötigt. Autor Tom Kelley, Geschäftsführer der weltbekannten Design- und Ideenschmiede Ideo, hat ein System zur Förderung kreativer Ideen entwickelt. Er gibt erstmals preis, wie seine Teams sich in jeden nur erdenklichen Aspekt eines neuen Produkts oder einer neuen Dienstleistung vertiefen und ihn aus der Sicht des Kunden und des Endverbrauchers prüfen. Kelley erzählt von grossen Ideo-Erfolgen - und von witzigen Fehlschlägen. Die Innovationsbibel für Unternehmen, die auch morgen die Nase vorn haben wollen.
ISBN 3-430-15317-4; 336 Seiten; Fr. 59.-