Irrationalität allüberall


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/15

     

Am Ende wird in der Wirtschaft nie – oder fast nie – rational entschieden. Sondern immer nur aus dem Bauch heraus, unter Berücksichtigung der sozialen Meinung in den Kreisen, in denen sich die Entscheider bewegen. Welcher IT-Top-Manager einer grossen Anwenderfirma kann es sich leisten, nicht nach Indien outzusourcen? Wer führt bei Technologieentscheidungen wirklich einen TCO-Vergleich (Total cost of ownership) möglicher Alternativen durch und wählt dann die günstigste aus? Oder gar eine TBO-Analyse (Total benefit of ownership)? Einige wenige. Die meisten Kosten/Nutzen-Rechnungen werden selbst von denen, die sie verfassen, nicht geglaubt. Ganz abgesehen davon, dass die mathematischen Grundlagen aus der Wahrscheinlichkeitstheorie nur wenigen Autoren und noch weniger Lesern solcher Rechnungen vertraut sind. Weshalb diese gar nicht abschätzen können, wie realistisch und praxisrelevant eine ökonomische Bewertung möglicher Alternativen ist.






Klassisches Beispiel irrationaler ökonomischer Entscheidungsgrundlagen ist in der Softwareentwicklung die Selektion des Bestbieters nach Personentagkosten bzw. nach den Kosten bis zum Liefertermin ohne Berücksichtigung der Kosten für die Fehlerbehebung danach. Welcher Manager traut sich, die Firma mit den höheren Tagkosten zu wählen, nur weil die zu erwartenden Gesamtkosten geringer sind? Wenige, obwohl dadurch gewaltige Summen eingespart werden könnten.
Fast immer fehlen auch wichtige Daten, um eine differenzierte ökonomische Analyse durchzuführen. Zwar ist dies prinzipiell kein Hindernis für rationales Entscheiden, denn ein solches berücksichtigt per Definition nur vorhandene Informationen. Doch in der Praxis werden fehlende Informationen fast immer durch vermeintliche Intuition und ideologisches Gedankengut ersetzt. Ausserdem wehren sich die Proponenten verschiedener Technologien nach Kräften gegen eine Verbesserung der Datenlage und eine Hinterfragung ihrer PR-Thesen. Wer in der Linux-Community will wirklich wissen, wie rational oder esoterisch die Entscheidungen der Leutnants waren? Kaum einer. Dabei gäbe es hier Spannendes zu entdecken und Wichtiges zu lernen.





Die Rationalisierung der IT-Entscheidungen ist ein langer Prozess. Er verlangt einen Kulturwandel und eine entsprechende Ausbildung auf allen Ebenen, die Geschäftsleitung mit eingeschlossen. Und er setzt empirische Forschungsergebnisse voraus: über gute IT-Engineering-Strategien und über Möglichkeiten zur Vorab-Bewertung der Nachhaltigkeit von IT-Ent-
scheidungen. Solche Ergebnisse gibt es leider kaum. In den Wirtschaftswissenschaften wurde die Informatik bislang fast ausschliesslich als «Enabler» für neue Geschäftsmodelle und besseres Prozessmanagement gesehen. Mittel- und langfristig optimiertes IT-Kosten- und
IT-Risikomanagement wurde fast gar nicht erforscht. Es gibt dafür weder Geld noch ist die Wirtschaft bereit, Daten zur Verfügung zu stellen. Zudem müssen die Forscher sowohl die Technik als auch die ökonomischen Modelle verstehen und Erfahrung im Erheben und Auswerten von Praxisdaten besitzen. Und sie tun sich schwer, die resultierenden Ergebnisse zu veröffentlichen.
Trotzdem, ein rasches Umdenken und eine intensive Zusammenarbeit von Wirtschaft und Forschung wäre für den Wirtschaftstandort Schweiz von grossem Nutzen, gerade weil es Jahre braucht, um rationales Entscheiden zu lernen.




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