Der Schlüssel zur Mobility
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/12
Im Frühjahr 1999 erlebte das Schweizer Car-sharing-Unternehmen Mobility eine Schreckensnacht: Innerhalb von wenigen Stunden wurden zehn seiner Autos gestohlen. Doch Mobility gibt es immer noch – und die Firma ist heute sogar ziemlich profitabel. Weil es gelang, ihr «Schlüsselproblem» mit günstiger Wireless-Technologie ein für allemal zu lösen.
Car-sharing war während vielen Jahren vor allem unter Umweltaktivisten beliebt, die ein Auto nur im äussersten Notfall und in Ermangelung «grünerer» Alternativen benützen: «Immer wieder wurden wir in diese Nische gedrückt», erinnert sich Mobility-Chef Karl Heusi.
Heute ist Mobility von der Rechtsform her immer noch eine Genossenschaft, doch dieses Kuriosum ist das einzige Überbleibsel aus der militanten Vergangenheit der Firma. Denn inzwischen ist es längst hip und trendy, ein «Autoteiler» zu sein. Vor allem unter jungen Städtern, die einen modernen und flexiblen Lifestyle zelebrieren und über ein ausgeprägtes soziales Bewusstsein verfügen.
Nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa ist Car-sharing auf dem Vormarsch. Inzwischen entdecken sogar Unternehmen seine Vorzüge für sich.
Mobility ist nun aber nicht einfach irgendein Autoverleiher, sondern das grösste Car-sharing-Unternehmen Europas. Wer ein Mobility-Auto benutzen möchte, muss sich als Mitglied anmelden und einen fixen Jahresbeitrag bezahlen. Und selbstverständlich folgen danach die üblichen Prozessschritte wie Reservierung vornehmen, Auto abholen, Auto fahren, Auto zurückbringen und bezahlen gemäss Benutzungsdauer.
Doch damit hat es sich auch schon mit gewissen Gemeinsamkeiten mit Hertz und Co. Denn: Mobility ist eine Selbstbedienungsfirma. Und in diesem Detail liegt der grosse Unterschied. Wer ein Auto bei einem herkömmlichen Autoverleiher mietet, der betritt die Filiale, erledigt den Papierkram und bekommt den Autoschlüssel vom Agenten ausgehändigt. Von dem Moment an «besitzt» der Mieter das Auto, und der Vertrag mit der Verleihfirma ist zustande gekommen.
Eine Selbstbedienungsfirma wie Mobility hat aber keine Filialen und keine Angestellten, die dem Kunden den Schlüssel übergeben. Darin liegt auch ihre Schwäche, denn dieses Manko war es, das Mobility in jener Nacht im Frühjahr 1999 zehn Autos kostete. Doch darin liegt inzwischen genauso die Stärke: Das Geschäftsmodell von Mobility ist einmalig und findet weitherum nur Bewunderung. Und der Schlüssel zum Erfolg liegt sprichwörtlich im (Auto-)Schlüssel.
Weil Mobility keine Filialen unterhält, befinden sich die rund 1800 Fahrzeuge an ausgewählten, über das ganze Land verteilten Standorten, oft in der Nähe von grossen und kleineren Bahnhöfen. Wenn ein Kunde ein Mobility-Auto reserviert hat, geht er einfach auf das Auto zu, holt sich den Schlüssel und fährt los. Bis 1999 hatte Mobility das «Schlüssel-Problem» folgendermassen gelöst: Jedes Mitglied erhielt einen universellen Schlüssel, mit dem sich eine spezielle Schlüsselbox öffnen liess, die neben den parkierten Autos angebracht war. In dieser Box hingen dann die eigentlichen Autoschlüssel. Das System funktionierte erstaunlich gut, wenn man bedenkt, wie einfach sich damit Missbrauch betreiben liess. In der Tat hinderte ja gar nichts die Mitglieder daran, die Box zu öffnen und einen Schlüssel und ein Auto ohne Reservierung zu nehmen oder damit herumzufahren, ohne anschliessend dafür zu bezahlen. Oder sogar an einem Abend mit einigen Freunden aufzutauchen, alle Schlüssel zu nehmen und mit den parkierten Autos das Weite zu suchen. So geschehen wahrscheinlich in jener verhängnisvollen Nacht.
Zu dieser Zeit wurde die GSM-Abdeckung in der Schweiz langsam lückenlos. Eingebaut in das GSM-Protokoll ist, wie wir alle wissen, ein Transportkanal mit dem Namen SMS, über den Kurznachrichten zwischen Mobiltelefonen und anderen drahtlosen Geräten verschickt werden können. SMS ist eine der Techniken, die Mobility nutzte, um ihr «Schlüsselproblem» zu lösen. Eine weitere Technik ist RFID (Radio Frequency ID), ein automatisches Identifikationssystem, das mit günstigen Chips und Sensoren arbeitet. Mobility kombinierte diese beiden Techniken mit einem speziell angefertigten Bordcomputer. Seither wurde kein einziges Mobility-Auto mehr gestohlen. Und so funktioniert es: Wer sich heute für eine Mobility-Mitgliedschaft anmeldet (der Dienst hat heute in der Schweiz rund 63‘000 Kunden), bekommt eine persönliche RFID-Karte. Diese enthält Informationen wie persönliche Daten, Mitgliednummer und Mitgliedstatus. Wenn der Mobility-Kunde ein Auto über die Internetseite oder über den telefonischen Kundendienst (nur noch ungefähr 15 Prozent aller Buchungen, Tendenz weiter sinkend) reserviert, dann schickt der Hauptcomputer von Mobility eine SMS mit den Reservierungsdetails an den Bordcomputer im entsprechenden Auto.
Um das Auto abzuholen, braucht der Kunde lediglich noch seine RFID-Karte vor die Windschutzscheibe zu halten. Der dahinter angebrachte Sensor erkennt die Karte und liest die darauf enthaltenen Informationen. Der Bordcomputer vergleicht die Daten aus der SMS und der RFID-Karte. Wenn sie übereinstimmen, entriegelt er die Autotüren. Die Autoschlüssel findet der Kunde im Handschuhfach. Einige andere europäische Car-sharing-Firmen benutzen heute ähnliche Systeme, so etwa Cambio in Belgien, Denzel in Österreich und ein lokaler Anbieter im italienischen Turin, der Heimat von Fiat notabene.
Auch wenn ein Dieb die Windschutzscheibe einschlagen und den Schlüssel behändigen würde – er könnte nicht davonfahren, denn der Motor würde nicht anspringen. Ohne eine korrekte RFID-Identifikation verhindert der Bordcomputer, dass das Auto auch nur um einen Zentimeter bewegt werden kann. Mehr noch: Im letzten Jahr versuchten Mobility-Kunden, zwei Autos ins Ausland zu verschieben. Als die Autos nicht an ihren Standplatz zurückkehrten, schickte der Hauptrechner eine SMS an die beiden Bordcomputer und instruierte diese, die Motoren nicht mehr zu starten. Mobility-Angestellte konnten die Autos lokalisieren, abholen und nach Hause zurückbringen.
Seit 2004 liegt zudem eine verbesserte Version des ganzen Systems vor. Jetzt werden überhaupt keine Schlüssel mehr benötigt, denn die neuen Autos haben einen Ein- und Ausschalt-Knopf. Das vollautomatische Buchungs- und Schlüsselmanagement-System hat natürlich noch eine ganze Reihe von Nebenwirkungen. Neben präzisen Auswertungen über die Auslastung sorgt es nämlich auch für mehr Kundendisziplin. Nur gerade 0,2 Prozent der Autos werden zu spät an ihren Standplatz zurückgebracht.
Selbstverständlich sind Mobility durch die ganze Umrüstung auch Kosten entstanden: Mit rund 2500 Franken pro Auto schlägt die Technik zu Buche. Dieser Betrag ist sicher nicht vernachlässigbar, vor allem wenn es darum geht, die Flotte oder Teile davon zu erneuern. Doch bereits sinken die Kosten und ein wichtiger Vorteil wird sichtbar: Durch die Optimierung der ganzen Verwaltung können neue Flotten problemlos und schnell in Betrieb genommen werden.
Und jetzt krempelt Mobility sogar noch die Art und Weise um, wie Unternehmen sich mobil machen, und hievt ihr erfolgreiches «Autoteilet-Konzept» auf die nächsthöhere Stufe: Business Car-sharing ist der Auslagerungsdienst für ganze Fahrzeugparks. Vor zwei Jahren wurde er eingeführt, und schon zeichnet er für einen Sechstel des Umsatzes von Mobility verantwortlich (der Gesamtumsatz belief sich im Jahr 2004 auf 43 Millionen Franken). Firmen benutzen eine Flotte von Autos, die ganz einfach von Mobility verwaltet wird. Die Angestellten, die im Zug oder im Flugzeug in eine andere Schweizer Stadt reisen, gehen einfach zum Mobility-Parkfeld, schwenken ihre RFID-Karte vor der Windschutzscheibe – und fahren los zum Kunden. Möglich werden all diese Innovationen durch die Wolke von drahtlos verbundenen Dingen, die uns umgibt (siehe Kasten). Mobility hat sich dieser Wolke angeschlossen. Und dadurch ein System geschaffen, das noch nie dagewesene Flexibilität in den Prozessen erlaubt und natürlich viel mehr Effizienz und mehr Kontrolle bietet. Und das den Albtraum aus jener Nacht im Frühjahr 1999 ein für allemal aus dem Gedächtnis verbannt.
Viele Unternehmen befinden sich auf einer Reise: Sie wollen einen Teil der Aktivitäten – oder sogar alle – «mobilisieren». In einer Zeit, in der Geschwindigkeit und Produktivität mit harten Dollars belohnt werden, macht es durchaus Sinn, wenn Verkäufer, Servicetechniker oder vielreisende Manager in Echtzeit auf die Datenbestände ihrer Unternehmen zugreifen (und diese natürlich auch bearbeiten) können. Es macht aber genausoviel Sinn, Maschinen und andere Objekte mit Kommunikationsfähigkeiten auszustatten, so dass sie besser überwacht und in Prozesse eingebunden werden können.
Was dies alles möglich macht, ist eine Wolke: Eine Mobilitäts- und Verbindungswolke, die aus verschiedenen Techniken besteht (GSM, CDMA, Wi-Fi, Bluetooth, UMTS, WiMax, NFC, etc.). In dieser Wolke «leben» längst nicht mehr nur Mobiltelefone: Da sind Computer, die mit Computern reden, Blackberrys, Sensoren, die ihre Umgebung abtasten, RFID und andere Chips, die Informationen mit sich tragen, PDAs, die strukturierten Datenflüsse erlauben, Kamerahandys, die Fotos schiessen und übermitteln, sowie vieles mehr. Indem sich Mobility dieser «Wolke» angeschlossen hat, konnte das Unternehmen (wie im Hauptartikel gezeigt) sein grösstes Geschäftsproblem lösen. Viele andere Firmen erfinden gegenwärtig ihre Prozesse mit Hilfe dieser «Wolke» neu. Paketdienste gehörten dabei zu den Pionieren. Heute ist es möglich, die Reise eines Pakets bequem auf einer Webseite mitzuverfolgen. Unternehmen wie der US-Pharmariese McKesson oder der italienische Elektronikproduzent Gewiss haben «Wolken-Lösungen» in ihren Lagerhäusern implementiert – und beide geben an, dass sie heute 80 Prozent weniger Falschlieferungen, dafür aber massive Produktivitätsgewinne verzeichnen. Der multinationale Schweizer Lift-Hersteller Schindler hat ein drahtloses Monitoring- und Dispatching-System eingeführt. Seither werden rund 8 Prozent mehr Service-Einsätze am gleichen Tag erledigt. Die Auto-Inspektoren von RCA in England brauchen 20 Minuten weniger pro Job, seit sie mittels PDA drahtlos miteinander verbunden sind. Und die Notfallärzte bei SOS Médecins in Genf haben ihre Reaktionszeit um die Hälfte verkürzt, seit sie eine drahtlose Lösung für das Dispatching und den einfachen Zugang zu den medizinischen Patientendaten über einen PDA eingeführt haben. «Das System hat die Art und Weise, wie wir mit medizinischen Notfällen arbeiten, völlig verändert», sagt SOS-Direktor Pierre Froidevaux.
Bruno Giussani ist Journalist, Konferenz-Produzent und Verwaltungsrat des Webdienstleisters Namic sowie Autor des Buches «Roam: Making sense of the wireless internet». Seine Blog-Adresse: giussani.typepad.com