Buzzword-Bingo mit Hand und Fuss

Obwohl Google 27 Millionen Seiten zum Begriff Web 2.0 ausspuckt, weiss kaum jemand, wofür Web 2.0 eigentlich steht. Wir klären auf.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/06

     

Die aus der Softwareentwicklung entliehene Version «2.0», die auf einen neuen «major release» anspielt, auf andere Bereiche zu übertragen, ist schon lange ein Running Gag in der Technologie-affinen Welt. 1997 veröffentlichte Esther Dyson ihr Buch «Release 2.0», und das neu gegründete Magazin «Business 2.0» wollte uns die neuen Regeln der Internet-Ökonomie beibringen. Nach dem Crash im Jahr 2000 wurde laufend versucht, dem Internet-Hype mit aktualisierten Visionen neues Leben einzuhauchen, jedoch nur mit mässigem Erfolg. Das Buch Web 2.0 über die Zukunft des Internets fand im Jahr 2002 jedenfalls keine grosse Resonanz.


Vordenker Tim O’Reilly

Das änderte sich erst, als im Herbst 2004 der Verleger und Internet-Vordenker Tim O‘Reilly Web 2.0 als Titel für eine Konferenz wählte und die Protagonisten des Webs 1.0 einlud. Langsam, aber stetig bahnte sich der Begriff seinen Weg durch Blogs und Artikel, durch Businesspläne und neue Finanzierungsrunden – wobei er viel Ballast durch neue Interpretationen aufnahm, bis man ein Jahr später immerhin einen kleinen «Hype 2.0» kreiert hatte, der zu neuen Deals inklusive Übernahmen junger Start-ups führte.






Protagonisten der neuen Welt pochen darauf, dass es sich um eine «neue Philosophie» handelt: das Web nicht mehr als Datenautobahn, auf der Inhalte vom Anbieter zum User sausen, sondern als vernetztes System, bei dem die modulare Zusammenstellung verschiedener Angebote den Nutzen des Users definiert. Und natürlich träumen wieder manche von einer generell besseren und gerechteren Welt oder einem «kollektiven Bewusstsein» im Internet – und sind damit eine leichte Zielscheibe insbesondere für das Medienestablishment, das den Status quo natürlich nicht in Gefahr sieht. Und schliesslich sehen wir heute oft Neuauflagen von Ideen, die schon in den späten Neunzigern versucht worden waren, aber damals aus den verschiedensten Gründen (fehlende Bandbreite und «always-on», kritische Masse, Umsetzung) gescheitert waren. Software als Service? Damals nur vereinzelt erfolgreich (mit Webmail als bestem Beispiel), nun in immer mehr Bereiche vordringend, bereits seit Jahren mit der Vorzeigelösung Salesforce.com. Voice over IP? Internet-Veteranen haben schon 1996 die ersten Anrufe über das Netz getätigt (was sich allerdings noch sehr wie Amateurfunken anhörte); heute hat Skype Millionen Subscriber, und Skype-Telefone führt jedes Kaufhaus.


Eine Sammlung von Trends

Seriös lässt sich Web 2.0 nach wie vor nur so beschreiben, wie es Tim O‘Reilly damals in seiner Konferenz auf seiner bekannten – wenn auch konzeptionell nicht über jeden Zweifel erhabenen – «Web 2.0 Meme Map» dargestellt hat: als Aufzählung von Einzeltrends, die jedoch sehr unterschiedlicher Natur sind und deren Gewichtung sich zudem bei jedem der neuen Angebote unterschiedlich darstellt. Daher ist es auch schwierig, Regeln aufzustellen, welche neuen Anwendungen nun Web 2.0 sind und welche nicht.






O‘Reilly listet rund 20 Komponenten von unterschiedlicher Tragweite auf, wir wollen fünf davon näher betrachten.
Die wichtigste ist sicher die neue Programmiertechnik AJAX, kurz für «Asynchronous Javascript and XML», ein Konzept der Datenübertragung zwischen Server und Browser, das ermöglicht, dass die HTML-Seite nicht mit jeder HTTP-Protokoll-Anfrage komplett neu übertragen wird, sondern dass nur gewisse Teile sukzessive nachgeladen werden. Was unspektakulär klingt, beseitigt de facto eine der grössten bisherigen Schwächen des Webs: das ermüdende Warten nach jedem Klick. Webdienste werden flüssig und bequem zu bedienen, wie man es ihnen nie zugetraut hätte, der Unterschied zwischen einer Web-Applikation und der klassischen Desktop-Anwendung wird plötzlich deutlich kleiner.


Gross in den USA

Die meisten AJAX-Websites stammen von neuen Firmen in den USA, doch auch in der Schweiz gab es eine Pionieranwendung: map.search.ch, bereits seit Oktober 2004 online, setzt zuerst jeden Kartenausschnitt aus mehreren dynamisch berechneten «Kacheln» zusammen, berechnet danach die um den aktuell betrachteten Bereich liegenden Kacheln und überträgt diese bereits im Hintergrund, während der User sich noch orientiert. Im Ergebnis ermöglicht dies ein stufenloses Ziehen der Karte und vermittelt bei einer schnellen Internetverbindung den Eindruck, die gesamte Schweizerkarte stünde ohne Zeitverzögerung zur Verfügung. Dies macht geradezu einen Quantensprung aus gegenüber klassischen Applikationen, bei denen die Karte bei jedem Navigieren oder Zoomen «springt» und der User sich neu zurechtfinden muss. Zusatzinformationen wie Abfahrtszeiten des öffentlichen Verkehrs, Parkhausbelegungen, Wassertemperaturen und diverse mehr werden ebenfalls im Hintergrund geladen und bei «Mouseover» angezeigt.


Klarschiff machen

Teilweise wird gemäss Web 2.0 auch nur mit alten Unsitten aufgeräumt, die schon lange als solche identifiziert sind. Die «granulare Adressierbarkeit des Content» wäre immer schon sinnvoll gewesen. Eine URL bei map.search lautet etwa map.search.ch/8004/badenerstr.-65. Sprechender geht es nicht, die URL der eigenen Adresse kann sich jeder im Kopf herleiten; dies im Gegensatz zu URLs, die Dutzende von Zeichen lang oder durch die Umsetzung mit Frames gar nicht direkt verlinkbar sind.






Nochmal zurück zu AJAX: Der vor zehn Jahren zu früh ausgerufene «Network Computer», bei dem nur noch der Browser lokal läuft und sich Programmintelligenz und Daten im Netz befinden, kommt zu neuen Ehren, nur nicht unter diesem Namen, sondern O‘Reilly spricht schlicht von der «Rich User Experience» der neuen Web-Applikationen. Die neuen Websites, die unsere Desktop-Applikationen online nachbauen, sind bald Legion. Writely ist ein abgespecktes Word, iRows ein kleines Excel, Anbieter wie netvibes wollen den Desktop ablösen; diverse weitere Onlinedienste schicken sich an, auch PowerPoint, Photoshop und überhaupt jede populäre Desktopanwendung nachzubauen, natürlich auf einem bescheidenen Niveau, das die grossen Brüder schon unter DOS erreicht hatten – aber viele User nutzen ja bis heute nicht mehr Funktionen als damals. Bereits zeichnet sich am Horizont ein neuer Kampf ab: Die Internetwirtschaft mit Google an der Spitze will in Microsofts klassische Domäne der Bürosoftware eindringen. Ob die «Hipness» der Online-Versionen auch die Massen der User überzeugen wird, die nur jeden Tag vom selben PC aus ihre Arbeit schnell und effizient erledigen wollen, muss sich erst noch zeigen, doch dass Microsoft die Bemühungen ernst nimmt, beweisen die eigenen Versuche mit Windows Live und Office Live.


Anwenderbeteiligung

Ein weiterer wichtiger Aspekt – manche meinen, der wichtigste überhaupt – ist die «User Participation», die zusammen mit «Tagging statt Taxonomie» (Inhalte werden nicht länger vom Anbieter hierarchisch strukturiert, sondern von den Usern mit Begriffen ihrer Wahl versehen, unter denen sie wiederum für alle auffindbar sind) die Schlagworte rund um das «Web zum Mitmachen» begründet. Das Web soll nicht mehr Einbahnstrasse vom Publisher zum Konsumenten sein – und damit im wesentlichen nichts anderes als die klassischen Medien –, sondern ein grosses Netz von «Prosumenten», die alle Inhalte konsumieren wie auch produzieren. Zweifellos gibt es wichtige Entwicklungen in diese Richtung. Die Foto-Community Flickr und noch mehr die «soziale Bookmarkverwaltung» del.icio.us werden erst möglich durch die Masse von Usern, die sie verwenden. Und mit dem eigenen Blog ist es noch mal um Grössenordnungen einfacher geworden als früher, seine eigene Website zu betreiben und dort die eigene Meinung zu verkünden.






Wird deswegen aber jeder zum Publisher? Schwerlich. Wer bisher nur konsumiert hat, wird kaum aufgrund der mikroökonomischen und technologischen Verbesserungen plötzlich mitteilsam in der Schriftform werden. Dennoch sollte die User Participation nicht unterschätzt werden: Wo sie einfach nebenbei läuft, generiert sie schon lange relevante Inhalte. Während bei Amazon nur ein Bruchteil der Käufer Rezensionen zu den erworbenen Medien ins Netz stellt, hat eBay User Participation zum Pflichtprogramm erhoben: Die Bewertung des Auktionspartners nach abgeschlossener Transaktion auf einer nur dreistufigen Skala (positiv, neutral, negativ – letzteres stellt einen echten Makel für jeden passionierten oder professionellen eBayer dar) führt zu Milliarden von User-generierten Daten und machte den weltweiten Erfolg von eBay überhaupt erst möglich.
Die Aufzählung von Elementen liesse sich weiter fortsetzen.


Kein Hype ohne Inhalt

Wichtig ist die Erkenntnis, dass die meisten Anwendungen keinesfalls alle Web-2.0-Kriterien verwenden, sondern in der Regel vor allem auf einem Aspekt basieren und einige andere mitlaufen lassen; nicht nur, weil es zur neuen Internet-Etikette gehört, sie einzusetzen, sondern weil so einfach bessere Websites entstehen. Bei Flickr ist die User Participation zentral (jeder kann Bilder von anderen «taggen» und kommentieren) und die Verwendung von AJAX eher nebensächlich, für Writely ist AJAX zentral und die Publikationsmöglichkeit in einen Blog eher ein nettes Zusatz-Feature, und so weiter.






Was ist das Fazit? Das Thema als Ganzes bleibt sperrig, aber es zeigt sich deutlich, dass es nicht allein um einen inhaltsleeren Hype geht. Dass mit Flickr, del.icio.us und Writely Firmen, die vor einem Jahr noch kaum jemand kannte, wieder kurz nach der Gründung von grossen Playern aufgekauft werden (nur shoppt heute nicht mehr die Old Economy, sondern es kaufen die im ersten Hype gross gewordenen – und gebliebenen – Internetfirmen), könnte eher den Blick auf das Wesentliche verstellen: Nach Jahren des relativen Stillstands ist wieder Bewegung in die Online-Landschaft gekommen, und die Innovationen sind nötig und erwünscht.


Der Autor

Peter Hogenkamp (peter.hogenkamp@zeix.com) ist CEO der auf Usability spezialisierten Zeix in Zürich, Er betreibt mehrere Weblogs; vor wenigen Wochen lancierte er das Gadget-Weblog neuerdings.com.




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