Sinnlose Bürokratie
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2010/09
Bitte warten, Sie werden bedient!» Mit dieser Tafel wird man heutzutage in vielen Restaurants am Eingang begrüsst und freundlich darauf hingewiesen, dass man vom Personal an einen freien Tisch geführt wird. Nicht selten wartet man dann aber eine gefühlte Ewigkeit, bis sich endlich ein gestresster Kellner herablässt, seinen Pflichten nachzukommen. Wer glaubt, mit der Ergatterung eines guten Sitzplatzes den schwierigsten Teil hinter sich gebracht zu haben, der wird oft eines Besseren belehrt. Während die Gäste am Nachbarstisch genüsslich ihr Fondue Chinoise verzehren und dazu einen exquisiten Chardonnay trinken, knurrt einem selbst vor Hunger der Magen. Wenn dann die Serviertochter den Nachbarn nach einer halben Stunde bereits die flambierten Pfirsiche auftischt und man nachzufragen wagt, ob man allenfalls vergessen worden sei, erklärt sie mit leicht säuerlicher Miene und vorwurfsvollem Unterton, dass dieser Tisch leider nicht von ihr betreut würde. Sie werde aber gerne die dafür verantwortliche Kollegin benachrichtigen. Solche Szenen spielen sich tagtäglich nicht nur in der Gastronomie ab sondern überall dort, wo sich Menschen stur an Regeln und Richtlinien halten, wenn aber eigentlich beherztes und unbürokratisches Eingreifen erforderlich wäre.
Ein Manager, der bekannt dafür war, mit Vehemenz und geradezu missionarischem Eifer gegen die Bürokratie in seinem Unternehmen vorzugehen, war Jack Welch, der von 1988 bis 2001 CEO von General Electric war. Es erstaunt nicht, dass von ihm der folgende Satz stammt: «Bekämpft die Bürokratie im Unternehmen! Hasst sie! Tretet sie in den Hintern! Brecht sie!» Mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit baute Welch den einst behäbigen Industriekonzern zu einem höchst erfolgreichen Global Player um. Die vorherrschende Beamtenmentalität ist dabei einer vielfach kopierten und kompetitiven Management-Kultur gewichen.
Auch Richard Branson, der mit 17 Jahren ohne Schulabschluss sein erstes Unternehmen gründete und mit viel Kreativität die Virgin Group – ein milliardenschweres Imperium – aufbaute, ist Bürokratie ein Dorn im Auge. In seinem Buch «Geht nicht, gibt’s nicht» schreibt er folgendes: «Die Welt ist voll von Bürokratie, geschaffen von Komitees mit zu viel Zeit und übermässiger Kontrollsucht. Bürokratie besteht grösstenteils aus völlig nutzlosem und sinnlosem Kauderwelsch. Wenn ich etwas Lohnenswertes tun möchte – oder einfach so zum Spass – lasse ich mich nicht von dummen Regeln abhalten. Ich finde einen legalen Weg um die Regeln herum, und tue es.»
Übermässige Regulierungs- und Kontrollsucht von Staaten und Grosskonzernen scheint immer schon ein Reizthema gewesen zu sein. Bereits im Jahre 1751 nervte sich der französische Wirtschaftswissenschaftler Jean Claude Marie Vincent de Gournay über das träge Verwaltungssystem, das der Finanzminister von Ludwig XIV., Jean-Baptiste Colbert, rund hundert Jahre zuvor eingerichtet hatte. Um der Korruption, der Willkür sowie der Ineffizienz am Hofe des Sonnenkönigs Herr zu werden, hatte Colbert ein hierarchisches und von Regeln geprägtes Verwaltungssystem erdacht. Damit sollte sichergestellt werden, dass Beamte künftig nicht nach Gutdünken entscheiden können, sondern sich an Vorschriften zu halten haben.
So sinnvoll der ursprüngliche Gedanke, welcher zur Einführung der Bürokratie geführt hatte auch war, scheinen in der heutigen Zeit gerade viele KMU-Betriebe unter der übermäs-sigen Reglementierung des Staates zu leiden. So schätzt beispielsweise Roland Rupp vom KMU-Verband in einem Interview mit «20 Minuten» vom 26. Juli 2010, dass Schweizer Firmen pro Jahr rund acht Milliarden Franken für unnötige Bürokratie ausgeben. Und laut der Studie «Credit Suisse Economic Research KMU-Umfrage 2010» mit dem Titel «Megatrends – Chancen und Risiken für KMU» sehen fast 60 Prozent der Befragten in dem zu hohen administrativen Aufwand im Behördenumgang das grösste Verbesserungspotential, um mittelfris-tig im globalen Wettbewerb erfolgreich bestehen zu können. (siehe Grafik)
Trotz dieser kritischen Stimmen lässt es sich nicht verleugnen, dass Staaten ohne bürokratische Strukturen nicht auskämen und diese durchaus auch ihre Vorteile haben. So schützen bürokratische Regeln vor Willkürakten, da vor dem Gesetz im Idealfall alle gleich behandelt werden. Durch Vorschriften und Auflagen wird die Sicherheit in allen Lebensbereichen klar definiert und geregelt. Auch Unternehmen und Grosskonzerne brauchen bürokratische Strukturen, weil diese im optimalen Fall eine Organisation effizienter machen, da Abläufe automatisiert und replizierbar werden.
Nicht selten jedoch entwickelt die Bürokratie innerhalb eines Unternehmens ein unkontrollierbares Eigenleben und die Gefahr besteht, dass ein Heer von Stäben sich mehr und mehr mit der Optimierung von internen Prozessen und Abläufen beschäftigt. Dabei bleiben über kurz oder lang Kunden und Mitarbeiter auf der Strecke. Wohl nicht zu Unrecht meinte der bekannte deutsche Unternehmensberater Klaus Höfner einmal: «Organisationen ab 1000 Leuten können sich sehr gut mit sich selbst beschäftigen. Da stört der Kunde nur.»
Wenn nicht mehr die Macher sondern die Bürokraten an den Schaltstellen sind, dann kann dies schnell zu grotesken Szenen führen. So regelt beispielsweise ein global tätiges IT-Unternehmen in ihren internen Bestimmungen, ab welchem Rang Mitarbeiter Anspruch auf ein Einzelbüro haben und ab welchem Dienstgrad der Drehstuhl eine Kopfstütze samt verstellbaren Armlehnen haben muss. Und in einem Artikel der Zeitung «Die Zeit» konnte man vor einer Weile nachlesen, dass eine grosse Bank in Frankfurt ihren Mitarbeitern verbietet, täglich mehr als zehn Stunden zu arbeiten. Wer sich nicht an diese Vorschrift hält, der bekommt Probleme mit der Personalabteilung.
Wie lässt sich Bürokratismus eindämmen? Gemäss Rüdiger Trimpop, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie in Jena, ist die Entscheidungskultur ein wesentlicher Faktor, ob sich übersteigerte bürokratische Strukturen ausbreiten können oder nicht. «Überlässt ein Chef seinen Mitarbeitern Entscheidungen? Kann er delegieren? Riskiert er, nicht alles bis ins Kleinste kontrollieren zu können?» Mit diesen Worten lässt sich Trimpop in «Die Zeit» in der Ausgabe vom 11. Januar 2006 zitieren. Und der Mannheimer Organisationsforscher Alfred Kieser empfiehlt, auf Grund der sich immer schneller verändernden Märkte, wo Flexibilität und Schnelligkeit gefragt sind und starre Strukturen häufig nicht funktionieren, Regeln in Form von Zielen zu formulieren, anstatt eine detaillierte Arbeitsanleitung aufzusetzen, an die sich Mitarbeiter zu halten haben. Damit, so Kieser, können Mitarbeiter besser und schneller auf Veränderungen reagieren.
Wer in seinem Unternehmen Nein-Sager züchtet, die gegenüber Innovationen und neuen Ideen mit Ablehnung reagieren, und wer Mitarbeitern, die Verantwortung übernehmen wollen, bei der kleinsten Kompetenz-überschreitung mit Sanktionen droht und darauf pocht, dass jede Entscheidung intern zehn Mal abgesichert werden muss, der braucht sich nicht zu wundern, wenn damit dem Bürokratismus Tür und Tor geöffnet werden. Ein anderer Wind weht da in den Unternehmen von Richard Branson. In seinem Buch «Geht nicht, gibt’s nicht!», schreibt er, dass ihm seine Mitarbeiter den Spitznamen «Dr. Yes» gegeben hätten, weil er auf jede Frage oder Bitte und jedes Problem meist positiv reagiere. «Ich habe immer versucht, Gründe dafür zu finden, etwas zu tun, wenn es wie eine gute Idee erscheint, als dagegen.» Chefs mit einer solchen Einstellung sind im positiven Sinne Gift für bürokratische und unflexible Strukturen. Da der Fisch bekanntermassen vom Kopf her stinkt, bleibt nur zu hoffen, dass es in Zukunft wieder mehr charismatische Chefs und Unternehmenslenker gibt, die sich um sinnlose und hemmende Regeln foutieren und den Mut haben mit gutem Beispiel voranzugehen, um legale Mittel und Wege zu finden, den Bürokratismus in seine Schranken zu weisen.