Das Web auf den Desktop bringen

Mit Rich Internet Applications und der Möglichkeit, den Desktop als Anzeigefläche für Web-Applikationen zu nutzen, können Firmen ihr Geschäftsmodell unterstützen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2010/04

     

Auf den ersten Blick sieht der Online-Shop des Schweizer Kulttaschen-Herstellers Freitag (www.freitag.ch) nicht ungewöhnlich aus: Alle Komponenten eines Webshops sind vorhanden. Ungewöhnliches offenbart ein Rechtsklick: Der Shop basiert auf Flash. Er verhält sich anders als ein herkömmlicher Shop, bei dem jede einzelne Seite nacheinander geladen wird, und fühlt sich wie eine Anwendung an, ohne wirklich eine zu sein. Dank der vielen dynamischen Effekte erhält der Kunde einen besonders reichhaltigen Eindruck.


Der Gedanke liegt nahe, für mehr Funktio-nen eine solche Shop-Applikation aus dem Browser zu extrahieren, auf den Desktop zu übertragen und somit einen grossen Teil der Shoplogik auf den lokalen Rechner zu verlagern. Denn die Grenzen zwischen Internet und dem lokalen Filesystem verwischen sich zunehmend; durch neue Technologien entsteht sozusagen ein Schengenraum für Computer-systeme, in dem Daten frei zirkulieren.


Eng mit dem Desktop verschränkt

Der User kann sich vollständig dem WWW ausliefern, mit einem Betriebssystem, das im Wesentlichen aus einem Browser besteht, oder mit browserbasierten Apps. Vielen Menschen – mit dem lokal installierten Windows aufgewachsen – ist das jedoch nicht ganz geheuer. Rich Internet Applications (RIA) kombinieren beide Welten. Nutzer müssen sich der Welt der WWW-Funktionen nicht vollends ausliefern, sondern besuchen einen «RIA-Store» im Internet und installieren für eine bestimmte Aufgabe die passende Software. Eine solche «reichhaltige Internet-Anwendung» verhält sich auf dem Desktop ähnlich wie eine traditio-nelle, lokal installierte Software. Sie stellt etwa Berechnungen auf der Clientseite an, beherrscht Drag and Drop oder lässt sich über Tastenkürzel bedienen. Die aktuellsten Daten dazu holt sie sich von einem definierten Server. Kurz: Eine RIA ist eine benutzerfreundliche, eng mit dem Desktop verknüpfte Webanwendung. Zur Herstellung von RIAs bieten sich verschiedene Werkzeuge an. Das Auktionshaus Ebay beispielsweise entschied sich für die Laufzeitumgebung AIR (Adobe Integrated Runtime) und ihre Plattform als Grundlage für den «Ebay-Desktop». Die Software sollte die Nutzung der inzwischen komplexen Auktionswebsite wesentlich vereinfachen.


Die Überlegungen von Ebay

Die AIR-Technologie bietet die Gewähr, dass die Anwendungen auf jedem gängigen System laufen: Windows, Mac OS und Linux. Und mit ihr lassen sich beide Welten, das Web und der Client, verschmelzen, wie die fertige Applikation zeigt: Aus der Welt der fest installierten Desktop-Software holt sich der Ebay Desktop Funktionen wie etwa das Speichern kompletter Suchergebnislisten auf der Festplatte, mitsamt den dazugehörigen Detailseiten zu den einzelnen Produkten. So kann der Nutzer etwa während einer Zugreise die Angebote sichten und ein Gebot platzieren, das dann beim nächsten Online-Kontakt verschlüsselt abgegeben wird. Beim Filtern der gespeicherten Angebote hilft die eingebaute Suchfunktion, die schneller reagiert als eine Online-Suchmaschine und vielfältigere Verfeinerungsmöglichkeiten bietet. Auch der Wechsel zur Detailansicht ist schneller: Statt eine neue Seite zu laden, wechselt der Nutzer auf ein anderes Karteiregister. «Die Interaktivität ist viel höher», erklärt Dr. Alexander Schwinn, Leiter des Entwicklerprogramms bei Ebay in Deutschland. «Wir hoffen, dass sich die Nutzer noch intensiver mit den Auktionen beschäftigen.»


Gerade im Fall des riesigen Angebotes von E-Shops und Auktionsplattformen leuchtet die Absicht hinter der Erstellung einer RIA ein: Solche Sites sind unübersichtlich geworden, das Angebot ist zu gross, um es ständig im Auge behalten zu können. Mit der AIR-Software aber werden etwa die Hinterlegung von Suchbegriffen und Kombinationen als Abo innerhalb der Applikation unterstützt. Produkte und Auktio-nen, die beim letzten Update noch nicht gefunden wurden, werden automatisch mit einem kleinen «New»-Icon markiert. In Kombination mit diversen Filtermethoden können die Nutzer alle ihre Auktionen und gewünschten Produktkategorien simultan im Auge behalten. Das ist praktisch. Und der Händler profitiert ebenso: Das neue Bietercockpit stärkt die Kundenbindung und steigert den Umsatz pro Kunde. Aus «Rich» wird «Reach»: Mit einer lokalen Webanwendung steigert sich der Nutzwert einer Site – und damit auch deren Reichweite.



Stärkere Prozessorientierung

Hätte es nicht einfach eine in den gängigen Sprachen programmierte Desktop-Software getan? Für die Entwickler der Ebay-Software kam dies nicht in Frage. Sie wollten neue Funktionen einfach via Internet hinzufügen, nur einmal für alle Plattformen entwickeln und die eingesparten Kosten und das grössere Zeitbudget dafür nutzen, die Auktionsplattform sozusagen neu zu erfinden. Nicht die Konventionen einer Website zählten, sondern die natürlichen Abläufe beim Mitbieten um das Objekt der Begierde. Ebay-Entwickler Alan Lewis: «Adobes Plattform erlaubte uns, die grafische Umgebung der Software völlig frei zu gestalten. Wir haben deshalb jeden Auktionsschritt neu durchdacht und uns nicht von der Website leiten lassen.» In der Praxis erlaubte AIR eine enge Zusammenarbeit von Designern und Entwicklern. Gestalter können mit ihren vertrauten Tools arbeiten und die Skins, Vignetten und andere Oberflächen-elemente in die Formate der verwendeten Entwicklungsumgebungen (z.B. das auf Eclipse basierende Open Source Framework Flex) exportieren. Entwickler wiederum können mit den Daten arbeiten und die gestalterischen Vorlagen leicht in ihren Code einbauen.


Einfache Entwicklung

Bei AIR handelt es sich um eine Zwischenschicht zwischen dem Betriebssystem und Ado-bes Internet-Technologien, allen voran Flash. Als Runtime stellt sie den Flash-Anwendungen Betriebssystem-Funktionen zur Verfügung. Mit der aktuellen Version 1.5 können Entwickler Zugriffe auf das Dateisystem, die Verwendung von SQLite-Datenbanken, TCP/IP-Verbindungen, die Nutzung von Binary Sockets, Verschieben (Drag and Drop), Kopieren und Einfügen sowie das Assoziieren von Dateitypen mit einer AIR-Anwendung einbauen. Die kommende, als Beta vorliegende Version 2.0 soll unter anderem die Barrierefreiheit verbessern, Multitouch-Geräte unterstützen, die CPU- und RAM-Auslastung verringern, die direkte Kommunikation mit Audio-Geräten erlauben und eine bessere Dateiverwaltung bieten. AIR-Applikationen werden sich damit auch tiefer in das System integrieren lassen. Hinzu kommen etwa UDP-Sockets und die Unterstützung von IPv6. Ausserdem mit an Bord: HTML5 und CSS3. AIR-Software kann künftig zudem mit anderen Applikationen Kontakt aufnehmen, sie starten oder von ihnen Daten beziehen. Die Applikationen sind übrigens mit einer Signatur versehen, so dass Manipulationen an installierten RIA nicht möglich sein sollen.


Im Falle von Ebay dauerte die Entwicklung rund zwei Jahre – relativ lange also. Dies aber nicht aufgrund der Technologie: Wer Internet-Plattformen baut, beherrscht auch die Entwicklung einer AIR-Applikation, die bloss Kenntnisse in JavaScript, HTML, Flash, XML oder Actionscript voraussetzt. Wer also bereits Web-2.0-Erfahrung hat, beherrscht auch das Erstellen von AIR-Applikationen, in denen alle gängigen Technologien gleichwertig zum Zug kommen können. Nicht fehlendes Know-how war somit für die Verzögerung verantwortlich: «Vor allem die Diskussionen über die Gestaltung des Interfaces haben viel Zeit in Anspruch genommen», sagt Entwickler Alan Lewis.


Geschäftsmodelle mit RIA stärken

Im Kern sind RIA eine Ergänzung zu Websites, die aufgrund ihrer Fülle und Funktionsvielfalt kaum mehr zu überblicken sind. Umgekehrt sind Webapps die Treiber neuer Services, neuer Chancen für Webunternehmen, die den Desktop ihrer Kunden nutzen können, um eine permanente Aufmerksamkeit und damit eine höhere Kundenbindung zu erzeugen. Ein Shop wie Freitag.ch – mit Hilfe des Flex-Frameworks entstanden – kann mit Leichtigkeit auf derselben Codebasis in eine AIR-Applikation umgewandelt werden. Zu marginalen Kosten: «Die Technologie ist der kleinste Kostenfaktor», sagt Michael Renner, Senior Enterprise Engineer von Adobe Schweiz. «Aufwändig ist die Konzeption – das ganze Drumherum eben.» Noch verspielten viele Schweizer Shops die Vorteile einer Desktop-Software. Eine Luxusuhrenmarke nutze AIR, um weltweit zeitgleich die lokalen Händler mit Informationen und hochwertigem Bildmaterial zu neuen Produkten zu beliefern. Wie das aussehen könnte, zeigt die AIR-Applikation des Kultfilms Avatar. Sie lädt nicht einfach den Trailer aus dem Web, sondern blendet Interviews mit den Schauspielern, Informationen und Tweets ein.


RIAs stärken die Kundenbindung weitaus besser als das Universalwerkzeug Browser mit seinen vielen offenen Fenstern. Ausserdem erlaubt die Technologie ganz neue Ansätze, etwa das Herauslösen aller Prozessfunktionalitäten aus dem Browser hinein in die RIA. Zurück bleibt eine repräsentative Site, begleitet von einer Applikation, die aufgrund von User-nah modellierten Prozessen einen besseren Kundenservice erlaubt. Zu guter Letzt sind RIAs ideale Begleiter für mobile Geräte wie Smartphones, Netbooks oder Tablets – unverzichtbare Helfer, wenn gerade mal nur die teure GPRS- oder HSPA-Datenverbindung zur Verfügung steht. Nicht nur für E-Shops, die ihre Ladenöffnungszeiten auf jedes beliebige Endgerät und Mobilfunknetz ausdehnen wollen.


Die richtige RIA-Technologie Auswählen

Vielfalt
Unterstützen die Clients Multimedia-Branchenstandards wie H.264 oder Advanced Audio Coding (AAC)? Bietet die Entwicklungsumgebung eine breite Auswahl an Komponenten für Benutzeroberflächen? Wird die Verwaltung grosser Datenmengen in Echtzeit unterstützt?



Reichweite
Verfügen alle potenziellen Anwender über die erforderliche Client-Technologie? Erlaubt die Technologie die Entwicklung von Lösungen, die in jedem Browser und auf allen Desktops konsistent angezeigt werden?



Produktivität
Erlauben die Werkzeuge eine effiziente Zusammenarbeit von Designern und Entwicklern? Werden die Werkzeuge branchenweit genutzt? Können Anwendungen in der Entwicklungs-umgebung rasch entwickelt, getestet und bereitgestellt werden? Gibt es eine grosse Community von Designern und Entwicklern, die bereits mit den Technologien arbeiten?




Artikel kommentieren
Kommentare werden vor der Freischaltung durch die Redaktion geprüft.

Anti-Spam-Frage: Vor wem mussten die sieben Geisslein aufpassen?
GOLD SPONSOREN
SPONSOREN & PARTNER