Swiss IT Magazine: Frau Hundertmark, ist der Hype der vergangenen zwei Jahre rund um Generative KI aus Ihrer Sicht gerechtfertigt? Hat die Technologie tatsächlich so grosse Sprünge gemacht?
Sophie Hundertmark: Es ist wirklich Wahnsinn, was die Technologie schon kann. Aber der Hype ist vor allem deshalb aufgekommen, weil Anwender Generative KI mit ChatGPT plötzlich sehr einfach nutzen konnten. Die Technologie hat nicht mehr nur im Hintergrund gearbeitet, sondern war für jeden verfügbar und hat gezeigt, was da eigentlich möglich ist. Das hat die Anbieter wiederum gefordert, immer mehr zu bringen, mehr zu veröffentlichen. Dann kamen Gemini, Grok und andere. Natürlich arbeiten die Unternehmen nicht erst seit gestern an diesen Diensten, aber ihre öffentliche Verfügbarkeit hat den Hype massiv befeuert.
Mit dem Hype hat sich also auch die technologische Entwicklung seitens Big Tech und anderen Anbietern nochmals beschleunigt?
Absolut, das war der Fall.
Was sind aus Ihrer Sicht die grössten Potenziale von GenAI? Vor allem mit Blick auf das KMU-Umfeld.
Es gibt meiner Meinung nach zwei zentrale Punkte. Zum einen lassen sich viele administrative, vor allem repetitive Aufgaben mit GenAI automatisieren. So können Mitarbeiter effizienter arbeiten, schneller, produktiver und in vielen Fällen auch mit einer höheren Qualität. Beispielsweise haben viele Unternehmen gerade im KMU-Umfeld maximal einen Marketingverantwortlichen, der längst nicht die Zeit hat, um auf alle Zielgruppen einzugehen beziehungsweise zielgruppenspezifische Inhalte zu erstellen. Und das gleich gar nicht über mehrere Medien hinweg. Hier kann GenAI natürlich enorm unterstützen, durch aufbereiteten Content und das für unterschiedlichste Zielgruppen. Und zum anderen ist mit Chatbots die klassische Beantwortung von Kundenanfragen im Customer Service möglich. Das sind die beiden wichtigen Bereiche, zum einen nach innen gerichtet, zum anderen customer-facing, also in Richtung des Kunden.
Muss man also noch etwas relativieren? Ist GenAI noch kein allmächtiger Business-Heilsbringer für alle Aufgaben, sondern eher ein unterstützendes Tool?
Es geht aktuell wirklich um Unterstützung und nicht darum, dass GenAI am Ende alles selbst machen wird. Das sehen wir letztlich auch in den Unternehmen. Wird hier einfach eine Copilot-Lizenz gekauft und gesagt «So liebe Mitarbeiter, jetzt haben wir GenAI», dann ändert sich erstmal gar nichts. Daher ist es so wichtig, die Mitarbeiter zu schulen, damit sie lernen, die Technologie an den richtigen Punkten in die eigene Arbeit zu integrieren. Die KI ist im Prinzip wie ein neues Team-Mitglied, bei dem sich die Frage stellt, was kann und was soll dieses neue Mitglied für Aufgaben übernehmen.
Machen viele Unternehmen bei diesen ersten Schritten Fehler?
Es gibt natürlich genug erfolgreiche Unternehmen und Success Stories. Aber es gibt auch viele Unternehmen, die es sich zu einfach machen, die Lizenzen kaufen, vielleicht noch eine Anweisung zum Thema Datenschutz und Prompten rausgeben, und das war es dann. Wichtig ist jedoch, dass man die Mitarbeiter begleitet, mitnimmt, unterstützt und stets schaut, was optimiert werden kann. Das ist ein bisschen wie in den Anfängen des Internets oder auch mit Google. Zu Beginn haben wir auch nicht alles gefunden, was wir gesucht haben, mussten erst das System verstehen. Mittlerweile haben wir das aber verinnerlicht.
Zeigen denn die meisten Mitarbeiter Interesse oder gehen sie noch mit Vorsicht an die neue Technologie heran?
Es gibt beides. Es gibt Mitarbeiter, die schlicht keine Lust auf etwas Neues haben oder auch Mitarbeiter mit Sorgen bezüglich des Datenschutzes oder dass die KI Jobs klaut. Und dann gibt es die Mitarbeiter, die zwar total fasziniert sind, die Technologie aber auch etwas blauäugig nutzen, nichts mehr Korrektur lesen und somit auch nicht merken, dass vielleicht Fehler enthalten sind. Aber natürlich sehen wir auch viele Mitarbeiter, die GenAI bereits erfolgreich nutzen. Und letztlich gibt es ohnehin nicht das eine Richtig und das eine Falsch. Daher ist es auch gerechtfertigt, mit etwas Skepsis an die Sache heranzugehen. Und nicht zuletzt kommt es immer darauf an, in welchem Umfeld sich die Menschen befinden.
Was kann man denn im Speziellen auf die Sorge erwidern, dass die KI den eigenen Job klauen könnte?
Grundsätzlich sind wir selbst daran schuld, wenn die KI das wirklich schafft. Wenn ich beispielsweise als Journalist jeden Artikel nur noch von der KI schreiben lassen, diese auch nicht mehr Korrektur lese, nichts mehr selbst recherchiere, dann werden nicht nur meine publizierten Texte schlechter, sondern ich mache mich auch selbst überflüssig. Wenn ich die KI aber als Tool verstehe, das mir dabei hilft, einen Leitfaden für ein komplexes Thema zu erstellen oder geschriebene Artikel für verschiedene Zielgruppen individuell aufzubereiten und in den passenden Kanälen zu veröffentlichen, dann schafft das Mehrwert. Und das haben wir letztlich selbst in der Hand.
Wo stehen Schweizer KMU heute auf diesem Weg, wie weit sind sie beim Einsatz von GenAI-Tools fortgeschritten?
Es gibt bereits viele Unternehmen, die nutzen ChatGPT für dieses und jenes. Aber wirklich integriert ist die Technologie bei den wenigsten.
Woran liegt das?
Man muss natürlich erstmal investieren. Aber bei vielen Unternehmen fehlt es an Zeit und Ressourcen. Hinzu kommt oftmals eine gewisse Angst. Aber natürlich versprechen die Anbieter auch viel, ohne passende Strategie klappt es aber nicht. Wir kennen das beispielsweise von Hubspot. Das ist sicherlich kein schlechtes Tool, aber wenn ich mir vorab keine Gedanken über Marketing Automation mache, dann brauche ich auch Hubspot nicht einsetzen. Und genau so ist das bei Microsoft mit Copilot. Copilot ist jetzt überall dabei, jeder kann ihn nutzen, und das ist super. Aber wenn Mitarbeiter nicht wissen wofür überhaupt, dann bringt das am Ende alles nichts.
Gerade das ist bei vielen Unternehmen aber aktuell die Herausforderung: ein passendes Einsatzszenario zu finden.
Den individuellen Einsatzzweck von GenAI findet man genau dann, wenn man weiss, was die Technologie kann und was dahinter steckt. Wenn ich bei Ihnen arbeiten will, dann sagen Sie sicher, dass Sie überhaupt nicht wissen, was ich machen soll. Wenn ich hingegen vorab erkläre, was ich kann, dann sieht das wieder ganz anders aus. Hinzu kommt natürlich, dass man selbst wissen muss, wie das eigene Unternehmen arbeitet. Es gilt also, sich Gedanken darüber zu machen, was es für Aufgaben und Prozesse gibt, welche Herausforderungen und Probleme bestehen und wie die Technologie helfen kann, diese zu lösen. Viele Unternehmen holen sich gerade dafür externe Unterstützung an Bord. Sicher ist das nicht bei jedem KMU notwendig. Aber es braucht definitiv eine gewisse Expertise und je kleiner ein Unternehmen ist, umso weniger Sinn macht es, diese intern selbst aufzubauen.
Der Einsatz von GenAI wird meist mit datenintensiven Branchen wie dem Finanzwesen, mit Versicherungen, den Medien oder auch dem Agenturumfeld in Verbindung gebracht. Sollte sich aber auch eine Tischlerei für die Technologie interessieren?
Natürlich muss man immer ein bisschen überlegen, wo die Kernkompetenzen eines Unternehmens liegen. Aber das Smartphone ist hier ein gutes Beispiel. Mittlerweile läuft in Tischlereibetrieben sehr viel über Whatsapp. Oder auch ein Maler, der sich gerade in meiner Wohnung befindet, mir ein paar Bilder sendet und unkompliziert eine Frage über den Chat stellen kann. Und so wird das auch bei GenAI sein, die Unternehmen werden sich ganz automatisch transformieren. Und dann kann man auch noch einen Schritt weitergehen. Vielleicht hat die Tischlerei noch nie Marketing gemacht. Mit KI ist das problemlos möglich. Es gibt letztlich wahnsinnig viele Anwendungen, die auch kleine Betriebe nutzen können. Und daher wird das gesamte Thema KI in allen Bereichen immer mehr kommen und an Bedeutung gewinnen, unabhängig von der Branche.
Ist das Thema Datenschutz wiederum eine Hürde für Unternehmen?
Nein, vor allem, wenn ich einfach mal mit ChatGPT experimentieren will. Dann gebe ich keine persönlichen Daten ein, sondern teste mit Max Mustermann ganz anonym. Wenn ich dann das Gefühl habe, dass der Einsatz sinnvoll ist, gehe ich gegebenenfalls auf Lösungen wie beispielsweise SwissGPT oder Peak Privacy, die datenschutzkonform sind und sich mittlerweile auch bezahlbar implementieren lassen.
Wie steht es um den Eigenbetrieb einer Lösung auf Basis eines vortrainierten LLMs? Ist dieser Aufwand für ein kleineres Unternehmen gerechtfertigt?
Ich denke, dass eine Lösung wie SwissGPT oder Peak Privacy im KMU-Bereich vollkommen ausreichend ist. Denn es geht ja nicht nur um das initiale Aufsetzen der Lösung, sondern auch um die Weiterentwicklung und den Support sowie Schulungen. Grundsätzlich geht die Entwicklung in Richtung Services und auch bei KI gilt, dass man das Rad in den meisten Fällen nicht unbedingt selbst neu erfinden muss.
ChatGPT, Gemini, Copilot, SwissGPT, Peak Privacy, um nur einige zu nennen. Lässt sich eine Empfehlung aussprechen, welcher Dienst aktuell der beste ist oder für welche Bereiche die Angebote besonders geeignet sind?
Das ist tatsächlich schwer zu sagen, da es nicht das eine perfekte Tool gibt. Es kommt immer darauf an, was ich genau suche und welche Lösung sich für meine Anforderungen eignet. Gleichzeitig ist es ein bisschen wie mit Microsoft und Apple. Die einen lieben Apple und möchten nicht darauf verzichten, die anderen setzen auf Microsoft. Und beide sind damit zufrieden. Daher müssen Unternehmen vorab prüfen, welche Bedürfnisse sie haben, sich aber am Ende auch mit ihrer Wahl zufriedengeben. Auch hier ist es wie mit einem neuen Mitarbeiter. Man kann Gespräche führen, den Mitarbeiter weiterentwickeln, man sollte aber nicht täglich hinterfragen, ob man nicht doch einen besseren Mitarbeiter finden kann.
Haben Sie darüber hinaus Empfehlungen aus der Praxis, wie Sie zusammen mit Unternehmen an neue GenAI-Projekte herangehen?
Meistens starte ich mit einer allgemeinen Einführung und zeige auf, was GenAI ist und was sie kann. Das gibt den Mitarbeitern einen guten Überblick. Sie müssen keine Entwickler oder LLM-Experten werden, aber sie müssen verstehen, was hinter dem Dienst steckt. So verstehe ich die Handlungen und Entscheidungen besser. So verstehe ich, dass ChatGPT einfach eine Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Basis von Wissen aus dem Internet ist. Und das erklärt dann auch, warum es nach wie vor zu Fehlern bei den Ergebnissen kommt.
Und welche Voraussetzungen oder Fähigkeiten sind dabei innerhalb der Teams besonders wichtig?
Transparenz ist ganz wichtig. Viele Mitarbeiter nutzen bereits ChatGPT, trauen sich aber nicht, das zuzugeben. Trotz guter Ergebnisse. Wenn hingegen das Vertrauen da ist und auch Transparenz über den genauen Einsatz, dann lässt sich die KI gemeinsam auch am besten integrieren.
Drängt dabei die Zeit? Sollten Unternehmen am besten jetzt anfangen, sich mit dem Thema KI beziehungsweise GenAI zu beschäftigen?
Ja, auf jeden Fall. Sie sollten sich schnellstmöglich damit beschäftigen.
Was droht anderenfalls?
Der Wettbewerb rauscht im schlimmsten Fall an ihnen vorbei und sie werden überrollt, wenn sie wichtiges Wissen verpassen. Daher gilt es wirklich, jetzt am Ball zu bleiben.
(sta)
Sophie Hundertmark
Nach Stationen in der Industrie und in Agenturen gehörte Sophie Hundertmark zu den ersten Masterstudentinnen in der Schweiz, die zu Chatbots forschen. Seit 2021 promoviert sie an der Universität Fribourg zur Kombination von Conversational AI, Fuzzy Logic, Ethic und Large Language Models (LLMs). Zusätzlich ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Institut für Finanzdienstleistungen Zug der Hochschule Luzern (IFZ). Sophie Hundertmark verfügt zudem über langjährige Erfahrungen als selbstständige Beraterin für die strategische Begleitung sowie Umsetzung von AI- und Chatbot-Projekten. Zudem berät sie Unternehmen zum (ethisch) verantwortungsvollen Umgang mit Generative AI, ChatGPT und ähnlichen AI-Systemen. Als Growth Lead und Beirat begleitet sie darüber hinaus Unternehmen wie AlpineAI, Eggheads.ai und Cloudburst und ist im Vorstand des Verbandes SwissInsights aktiv.