KMU, also Firmen mit weniger als 250 Beschäftigten, stellen nach den Erhebungen des Bundesamtes für Statistik mehr als 99 Prozent der marktwirtschaftlichen Unternehmen und zwei Drittel der Arbeitsplätze in der Schweiz. Insgesamt handelt es sich um 619’946 Betriebe mit 4,8 Millionen Beschäftigten (Stand 2022). So bedeutsam KMU also traditionell für die Schweiz sind, so zurückhaltend setzen sie die zukunftsträchtigen Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI) bisher ein. Bei einer Umfrage von Swiss Export, Kearney und der Raiffeisen-Bank unter mehr als 600 Unternehmen gaben im vergangenen Jahr nur neun Prozent an, KI systematisch zu nutzen. 37 Prozent hielten sie noch für gar nicht relevant, immerhin 54 Prozent setzen Pilotprojekte um. Als primäre Einsatzbereiche wurden mehrheitlich IT, Marketing und Vertrieb sowie Kundenservice angegeben. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Umfrage von der ETH Zürich und dem Branchenverband Swissmem unter Unternehmen der verarbeitenden Industrie. Zu den häufigsten KI-Anwendungen gehörten hier Internetsuchmaschinen, Sprachübersetzung oder vereinzelte Branchenlösungen wie die Vorhersage von Produktionsausfällen. Häufig war die tatsächliche Nutzung aber gering, und es blieb unklar, wie sich mit der Technologie in alltäglichen Prozessen Mehrwert generieren lässt.
«Seit rund zwanzig Jahren bringt die zunehmende Informatisierung der Gesellschaft die meisten Unternehmen dazu, über die Produkte und Dienstleistungen, die sie anbieten, immer grössere Mengen an Informationen zu sammeln und anzuhäufen», sagt Laurent Sciboz, Professor an der Fachhochschule Westschweiz und Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats, eines Konsultativorgans des Bundesrates. «Diese Masse an Daten ist allerdings ein Rohstoff, der mangels geeigneter Werkzeuge weitgehend ungenutzt bleibt. Die Künstliche Intelligenz eröffnet den KMU die Möglichkeit, sie deutlich präziser und effizienter zu nutzen.» Aus verschiedenen Gründen sind KMU aber in einer anderen Situation als grosse, gar global tätige Unternehmen. KI-Anwendungen sind auch für ihren zukünftigen Erfolg entscheidend, müssen aber anders angegangen werden.
Betrieblichen Bedarf als Ausgangspunkt wählen
Während viele Konzerne ihre KI-Projekte «explorativ» (erkundend) angehen und häufig sogar eigene Spezialisten dafür anstellen können, ist das für die meisten Schweizer KMU keine Option. Weit überwiegend handelt es sich bei ihnen um Mikrounternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und mit hoher Kostensensitivität. Typisch ist stattdessen, wie eingangs beschrieben, das spielerische Ausprobieren populärer KI-Anwendungen und im besten Fall einzelner Pilotprojekte, ohne dass sie im Betriebsalltag implementiert werden können. Gleichwohl registrieren auch bei den KMU die Geschäftsführer beziehungsweise -leitungen den Hype um KI und sehen den Bedarf, sich damit auseinanderzusetzen und selbst davon zu profitieren. Eigene Kenntnisse und Erfahrungen, Investitionsmöglichkeiten und -bereitschaft sind hingegen eher überschaubar, was zu einer Bevorzugung der günstigeren Anwendungen aus dem Bereich der generativen KI führt. Typische Einsatzgebiete hierfür sind das Marketing (z.B. Formulieren von Texten und E-Mails, Kampagnen-Ideen) und der Kundenservice (Chatbots, automatisiertes Beantworten von Standardanfragen).
Dieser Ansatz, ausgehend von einem populären neuen Werkzeug passende betriebliche Anwendungen zu suchen, ist verständlich. Aber er birgt das Risiko, dass Werkzeug wie Anwendung eher zufällig ausgewählt werden und sich die zeitlichen und finanziellen Investitionen unzureichend oder gar nicht rentieren. Gleiches gilt für diejenigen, die KI vor allem aus der Angst angehen, ansonsten etwas zu verpassen. Erfolgversprechender ist jedoch der umgekehrte Weg: Zuerst betriebliche Herausforderungen identifizieren, danach prüfen, ob und welche KI-Anwendungen die passende Lösung sein könnten.
Die Unternehmensstrategie bietet eine hervorragende Ausgangsbasis für dieses Vorgehen, und häufig zeigt sich, dass für ihre typischen Ziele (Umsatz- oder Margenwachstum, Erschliessen neuer Kundenkreise oder Geschäftsmodelle) die Werkzeuge der analytischen KI am besten geeignet sind. «Analytics Translation» nennt sich diese Methodik, die richtigen Einsatzgebiete und Anwendungsfälle für KI im Unternehmen zu identifizieren. Sie sollte von den wichtigsten Entscheidungsträgern im Rahmen einer Weiterbildung (ein bis zwei Tage) erlernt werden.
Führung mit realistischen Erwartungen
Die Geschäftsleitungen der Schweizer KMU positionieren sich dabei ganz unterschiedlich, abhängig von Branche, Unternehmenskultur und -reife. Während manche klar anweisen, dass vorhandene Daten mittels KI stärker unternehmerisch genutzt werden sollen, wollen andere im Zweifel «erst einmal abwarten und beobachten», wie es auch ein wenig der vorsichtigen Schweizer Mentalität entspricht. Und gerade Unternehmen, die in einer Nische tätig sind, dort allerdings möglicherweise als Weltmarktführer, spüren oft keinen Innovationsdruck. So sind die drei Risiken in Bezug auf Führung, wenn es um die Einführung neuer technologischer Werkzeuge geht: zu beschäftigt, zu ängstlich oder zu bequem.
Dabei können KI-Projekte zügig ablaufen. Die systematische Identifizierung von Anwendungsfällen ist innerhalb eines Monats machbar. Innerhalb eines weiteren Monats lassen sich erste Resultate dahingehend erzielen, was im Unternehmen funktionieren könnte und erfolgversprechend wäre (z.B. im Rahmen eines Pilotprojektes). Die Überführung in den operativen Betrieb inklusive Mitarbeiterschulungen braucht dagegen länger, hierfür sollten vier bis sechs Monate angesetzt werden. KMU haben hier durch Inhaberführung, flache Hierarchien und einfache Strukturen ihre Vorteile. In jedem Fall braucht es aber eine gewisse Innovationsbereitschaft, wobei man rund 50’000 Franken als Minimum ansetzen könnte. Zwar lässt sich ein Machbarkeitsnachweis (Proof of Concept) im Rahmen eines Pilotprojektes teilweise auch deutlich günstiger bewerkstelligen. Doch das Ziel sollte nicht sein, die Anwendung nach dem Ausprobieren bald wieder aufzugeben, wie es oft geschieht. Daher müssen auch die Überführung in die Produktion, die Integration in die Prozesse und Schulungen budgetiert werden. Wer nur 10’000 Franken budgetieren will, kommt nicht bis zu der Phase, ab der ein nachhaltiger wirtschaftlicher Mehrwert entstehen kann.
Das heisst nicht, dass sich jeder KI-Anwendungsfall rechnen muss, also als Profitcenter konzipiert werden sollte. Oft trägt sich erst eine Kombination aus mehreren Anwendungsfällen wirtschaftlich selbst (z.B. Logistik-Optimierung mit den Einzelelementen Nachfrage-, Kapazitäts- und Ressourcen-Prognose mittels KI). In jedem Fall ist es aber empfehlenswert, für KI-Projekte vorab konkrete Erfolgskriterien (u. B. Umsatzwachstum, Kostenersparnis, Margenerhöhung) festzulegen und eine ROI-Prognose zu erstellen.
Bei einer Umfrage von Swiss Export, Kearney und der Raiffeisen-Bank unter mehr als 600 Unternehmen gaben im vergangenen Jahr nur neun Prozent an, KI bereits systematisch zu nutzen. Den grössten Nutzen sehen die befragten Unternehmen in einer Verbesserung der Arbeitsprozesse, gefolgt von der Kundeninteraktion und der Produktentwicklung. (Quelle: Swiss Export, Kearney, Raiffeisen)
Cloud-Lösungen sauber vorplanen
Bei den technischen Voraussetzungen für KI, konkret der Hardware, sind bei den KMU – je nach Branche – unterschiedliche Voraussetzungen vorhanden. KMU im Finanzsektor, speziell Regionalbanken, setzen vielfach auf traditionelle On-Premises-Lösungen. Insgesamt geht die Entwicklung jedoch klar in Richtung Cloud, insbesondere, seit alle relevanten Hyperscaler die Datenspeicherung und -verarbeitung in regionalen Datenzentren (Schweiz oder zumindest EU) anbieten und vertraglich zusichern.
Auch bei früher zögerlichen, weil besonders sicherheitsbewussten Branchen lässt sich heute eine grosse Offenheit für Cloud-Lösungen feststellen, weil die Vorteile schon in Bezug auf den reduzierten eigenen Wartungs- und Personalaufwand sowie das drastisch niedrigere Verlustrisiko offenkundig sind. Für KI-Anwendungen sind sie allein wegen des Bedarfs an Rechenleistung und Datenspeicherung mittelfristig unverzichtbar. Der unternehmenseigene Server gerät, geht es über einzelne KI-Pilotprojekte hinaus, hingegen schnell an sein Limit.
Eine saubere Konzeption und Planung ist hier gerade für KMU unverzichtbar, da sie Budgetüberschreitungen weniger gut als Konzerne verkraften können. Zwar erfordert die Nutzung von Hyperscaler-Angeboten (z.B. Swisscom, AWS, Google Cloud) geringe Vorinvestitionen; wegen der nutzungsabhängigen Abrechnung können sie aber schnell teuer werden. Hier muss vor allem die Datenverarbeitung und -speicherung optimiert werden (wie werden Daten geladen, welche werden überhaupt benötigt), zudem ist die ständige Kostenkontrolle zwingend, um Budgetüberschreitungen zu verhindern.
Für Anwendungen der generativen KI gibt es zudem auch die Möglichkeit der lokalen Nutzung (z.B. für Chatbots, Bild-KI oder Mustererkennung). Aber in der Praxis zeigt sich oft, dass die Hardware im Unternehmen, etwa Laptops der einzelnen Mitarbeiter, nicht dafür ausgelegt ist und damit bald ausgetauscht werden müsste. Der Weg über die Cloud macht diese Investitionen im Vorfeld unnötig und erlaubt es zudem, Anwendungsfälle und mögliche Lösungen flexibel auszuprobieren, bei Bedarf abzubrechen oder anders anzugehen.
Software-Bedarf je nach KI-Anwendungsfall
In Bezug auf die Softwareausstattung und -entwicklung fällt es KMU vielfach schwer, die entsprechenden Spezialisten zu finden und zu halten. Ältere IT-Mitarbeiter sind häufig weniger mit den modernen Programmiersprachen und -konzepten rund um Daten- und KI-Anwendungen vertraut oder haben selbst nie damit gearbeitet. So werden prozessuale Programmiersprachen wie zum Beispiel PL/SQL von Oracle immer weniger genutzt. Gefragt sind dagegen Python und Scala sowie cloudbasierte Software-as-a-Service-Lösungen von Anbietern wie Databricks oder Snowflake.
Aufbau von Spezialwissen lohnt sich für KMU kaum
Speziell für Anwendungen der klassischen (analytischen) KI, etwa Marketing- und Kapazitätsanalysen im Unternehmen, braucht es eine Datenplattform. Alle Hyperscaler bieten diese Komplettlösungen für das Erfassen, Verarbeiten, Analysieren und Präsentieren von Daten an. Sie muss jedoch mit der Unternehmens-IT verbunden und bedarfsweise mit weiteren Komponenten ergänzt werden. Hier braucht es Kompetenz bei der Auswahl und bei der Entscheidung, wo es kommerzielle und wo es Open-Source-Lösungen sein sollen. Die populären Anwendungen der generativen KI sind auch ohne eigene Datenplattform nutzbar. Aber für die operative Nutzung im Unternehmen kommt man mittelfristig auch hier nicht um die Hyperscaler herum.
Für die wenigsten KMU lohnt sich jedoch der Aufbau dieses Spezialwissens – und er ist für sie oft praktisch auch gar nicht umsetzbar. Hier lohnt sich die Einbeziehung externer Experten, die projektbezogen im Unternehmen mitarbeiten und ausgewählte Mitarbeiter einweisen und weiterbilden. Sind die Cloud-Strukturen und die notwendige Software aufgesetzt, kann die eigene IT-Abteilung den Betrieb übernehmen und nur noch bedarfsweise externen Rat in Anspruch nehmen. Speziell bei KMU ist es auch nicht unüblich, die Datenanalyse auszulagern, also die Daten (z.B. aus dem Verkauf) an externe Spezialisten zu geben, die sie mittels KI auswerten und zurückliefern.
Prozesse mittelfristig anpassen
All diese Anwendungen setzen voraus, dass im Unternehmen ausreichend viele Daten in ausreichender Qualität vorhanden sind, und zwar digital. Davon sind die meisten KMU noch weit entfernt. Vieles ist hier noch papierbasiert (Formulare, Ausdrucke, Briefe); häufig sind Daten zwar in Excel-Listen oder einzelnen Datenbanken (z.B. CRM, Mailing-Tool) erfasst, aber weder einheitlich strukturiert noch synchronisiert. Gleichwohl bietet die KI sehr fähige Werkzeuge, um Dokumente zu digitalisieren, Daten zu extrahieren und zu strukturieren.
Die Qualität der Datenextraktion lässt sich massiv erhöhen, wenn sie auf die spezifische Situation im Unternehmen angepasst ist. Kommerzielle Standardlösungen (Off the Shelf) genügen dem betrieblichen Bedarf häufig nicht und erfordern manuelle Nachbearbeitung, was der Intention des KI-Einsatzes zuwiderläuft. Hier empfehlen sich also fast immer individuell optimierte Lösungen sowie Prozesse mit weniger Medienbrüchen. Beispiel: Das Einfordern von digitalen Kundenbestellungen über ein Webportal mit standardisierten Feldern, nicht wahlweise per E-Mail, Telefonanruf oder angehängtem Formular.
Die passenden internen Ansprechpartner definieren
Für das Identifizieren, Konzipieren und Implementieren von KI-Anwendungen sind in KMU häufig diejenigen Mitarbeiter und Teams die besten Ansprechpartner, die für Reportings verantwortlich sind (z.B. im Controlling, Verkauf oder in der Logistik). Sie arbeiten bereits mit Daten und bestimmten mathematischen Methoden (Statistik, Wahrscheinlichkeiten), haben dadurch Kompetenzen und ein grundlegendes Verständnis für die Konzepte und Methoden der KI. Hilfreich ist zudem eine gewisse technische Affinität, wie sie das Arbeiten mit Cloud-Anwendungen und Datenbanken mit sich bringt. Interne Workshops und individuelle Schulungen können auf dieses Vorwissen aufsetzen und es bedarfsgemäss erweitern, vor allem aber die gemeinsame praktische Arbeit im ersten KI-Projekt.
Zu häufig wird Künstliche Intelligenz noch als klassisches IT-Thema verstanden, aber es handelt sich zuerst und vor allem um ein geschäftliches Thema. Entsprechend muss KI auch auf Geschäftsleitungsebene getragen werden: als Werkzeug, um den bisherigen wirtschaftlichen Erfolg besser zu verstehen, für die Zukunft zu sichern und weiter auszubauen.
Der Autor
Wirtschaftsinformatiker Jonas Dischl ist CTO und Head of Data, Architecture & Engineering bei der Technologieberatung
Xebia in Zürich. Xebia begleitet Unternehmen unter anderem bei Datenanalyse- und KI-Projekten.