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«Wer Fachkräfte ernten will, soll Lehrstellen säen»
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«Wer Fachkräfte ernten will, soll Lehrstellen säen»

Der Fachkräftemangel macht dem ICT-Berufsfeld nach wie vor zu schaffen – laut ICT-Berufsbildung Schweiz fehlen hierzulande bis 2030 knapp 40’000 Fachkräfte. Der Verband um Geschäftsführer Serge Frech bemüht sich zwar darum, Lösungen für das Problem zu finden, doch der Weg ist steinig. Wie viele Lernende man eigentlich ausbilden müsste, warum dabei angelsächsisch geprägte Management-Kultur im Weg steht und was das alles mit der fragmentierten Schweizer ICT-Verbandslandschaft zu tun hat, verrät Frech im Gespräch.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2024/05

     

«Swiss IT Magazine»: Herr Frech, die Medien titelten mit Bezug auf den Fachkräftemangel Index Schweiz 2023, dass sich der IT-Fachkräftemangel 2023 gegenüber 2022 schon wieder ein bisschen entspannt haben soll. Die Zahl der fehlenden Fachkräfte ist zwar weiter gestiegen und war Ende 2023 auf einem neuen Höchststand, die Entwicklung hat gegenüber 2022 aber stark gebremst. Geht es tatsächlich bergauf oder trügen diese Zahlen?
Serge Frech:
Diese Zahlen trügen auf jeden Fall. Man muss hier unterscheiden, ob es sich bei dieser Abschwächung in der ICT um eine Episode oder einen Trend handelt. Wir gehen von einer Episode aus, die mit Veränderungen bei Grossunternehmen zu tun hat – so wurden etwa bei der Restrukturierung der Credit Suisse sowie mit den Kündigungen bei Google viele Informatiker in den Markt gespült. Die damit steigende Zahl der Stellensuchenden ist in unserer Auffassung aber eben nur episodisch. Auch muss man betonen: Die genannten Zahlen aus der Studie bewegen sich im niedrigen Prozentbereich. Unsere Prognosen sprechen aber von knapp 40’000 fehlenden Arbeitskräften bis 2030. Da bleibt so oder so eine grosse Lücke, wir sind deshalb noch lange nicht optimistisch.

Die aktuellen Zahlen deuten aber darauf hin, dass die Big-Tech-Unternehmen zumindest international gesehen nicht mit den Stellenstreichungen aufhören – bisher gings 2024 fast ungebremst weiter mit den Kündigungen.
Angenommen diese Entwicklungen wären doch keine Episode, sondern ein Trend, würde sich der Fachkräftemangel in der ICT in den kommenden Jahren etwas entschärfen – das kann sein. Aber einmal mehr: Wir sprechen von einem Mangel in fünfstelliger Höhe, einem Wirtschaftswachstum, das in meinen Augen vorerst nicht stagniert und einer immer schneller voranschreitenden Digitalisierung der Wirtschaft, mit der es immer mehr Informatiker braucht. Das Problem wird durch diese Kündigungen vielleicht leicht entschärft, aber auf lange Sicht nicht gelöst.


Laut der erwähnten Studie kommt die IT auf Platz zwei, direkt nach dem Gesundheitssystem, was den Mangel an Fachkräften betrifft. Auffällig ist dabei, dass die Kategorisierung in einem sehr breiten Bereich wie dem ICT-Markt aber nicht ganz einfach ist. Können Sie etwas granularer aufzeigen, in welchen Fachbereichen es am meisten mangelt?
Den grössten Teil der ICT-Fachkräfte machen derzeit Software Engineers aus. Wir gehen davon aus, dass in absoluten Zahlen hier auch der grösste Mangel entstehen wird – mit grossem Abstand. In relativen Zahlen hingegen wird es in der Telekommunikationstechnik sowie in der IT Security an den meisten Fachkräften fehlen. In letzterem Bereich gibt es historisch das grösste Wachstum, ausserdem wächst die Bedrohungslage im Cybersecurity-Bereich, was den Bedarf ebenfalls weiter erhöht.

Wie wird sich in Ihren Augen die aktuelle Adaption von KI-Technologien und der ganze GenAI-Hype auf die Fachkräftesituation in der ICT-Branche auswirken?
Es ist heute zu früh, um vorherzusagen, welche Auswirkungen das haben wird. Ich glaube aber nicht, dass die Technologie die Software-Entwickler so stark entlasten wird, dass wir schnelle Effekte sehen. Und eines darf man nicht vergessen: Für das Bauen und Trainieren der KI-Modelle sowie in der Qualitätssicherung brauchts wiederum neue, sehr gut geschulte Fachkräfte.

Die Geschichtsbücher geben Ihnen mehrheitlich recht – mit grossen technologischen Sprüngen in der Produktivität kamen meistens mehr Arbeitsplätze hinzu.
Ja, ich denke, dass dieser Effekt auch bei KI eintreten wird. Und hier kommen wir schon wieder zum Thema Ausbildung: Es ist wichtig, diese Leute heute auszubilden, damit sie morgen unsere KI-Modelle entwickeln, trainieren und kontrollieren können.


Ihr Verband betont immer wieder, dass die beste Massnahme für die Schweiz die Förderung der Berufslehre ist, um dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Wie stehts denn um die Situation der Lehrstellen im Schweizer ICT-Berufsfeld?
Es gibt ein stetiges und erfreuliches Wachstum bei den Lehrstellen, wir haben aber nach wie vor eine Unterdeckung, es gibt also mehr Interessierte als Lehrstellen. Derzeit haben wir eine Lehrstellenquote von 5,9 Prozent, also knapp 6 Lernende auf 100 ICT-Fachkräfte.

Und wohin müssten wir kommen, um den Bedarf zu decken?
Diese Zahl müsste auf 8,1 Prozent steigen, um Abwanderung und Zusatzbedarf zu kompensieren. Die Wirtschaft ist weiterhin gefordert, Lehrstellen zu schaffen. Denn die Berufslehre ist und bleibt der nachhaltigste Bereich, um den Bedarf zu decken. Man muss sich bewusst machen: Knapp 80 Prozent aller ICT-Abschlüsse haben ihren Ursprung in der Berufsbildung.

In anderen Branchen funktioniert diese Nachwuchsförderung ja offenbar besser. Was läuft hier falsch im ICT-­Bereich?
Viele andere Branchen haben interessanterweise das Problem, dass sie weniger attraktiv sind und damit die Lernenden nicht bekommen. In der ICT gibt es hingegen eine andere interessante Herausforderung: Im Middle- und Top-Management sitzen viele Leute mit angelsächsischem Hintergrund, diese haben unser Berufsbildungssystem nicht in gleicher Art verinnerlicht und sind davon nicht gleich überzeugt wie Schweizer Führungskräfte.

Der Lehrstellenmangel in der ICT ist ein Kulturproblem?
Wenn man einem Manager aus England erklärt, dass er Lehrstellen schaffen muss, wird man schräg angeschaut. Dass unsere duale Berufsbildung einer der Hauptwirtschaftstreiber ist, ist ihnen kaum bewusst.

Google hat also wenige Lehrlinge?
Google hat verhältnismässig viele Lehrstellen – aber ehrlicherweise, weil man sie jahrelang bearbeitet hat. Über 5 Prozent kommt man aber auch da nicht. Microsoft hat hingegen gerade einmal einen oder zwei Lernende in der Schweiz. Im Kontrast dazu steht etwa Accenture, das von einem Schweizer geführt wird und verhältnismässig viele Lehrstellen hat. Oder die UBS – der CEO Sergio Ermotti selbst hat mal eine Lehre in der Bank gemacht – und damit wird die Berufsbildung über alle Bereiche hinweg gefördert. Aber natürlich ist der Fachkräftemangel auch ein Schwanzbeisser.


Wie meinen Sie das?
Wem Fachkräfte fehlen, der hat auch keine Fachkräfte, um neue auszubilden. Und logischerweise werden Fachkräfte lieber dort eingesetzt, wo sie verrechenbar sind. Das führt in einen Teufelskreis.

Wie steht es um die Kostenrechnung für die Betriebe, wenn man Lehrstellen anbietet?
Eine Studie der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) sagt, dass die Berufsbildung im Bereich ICT defizitär ist und einen Betrieb rund 20’000 Franken kostet. Jemanden zu rekrutieren ist aber mindestens genauso teuer. Wir glauben zwar nicht, dass das Defizit so hoch ist, wie das die besagte Studie ausweist, aber ja – Lernende auszubilden ist eine Investition, die sich nach zwei bis drei Jahren auszahlt. Im schnell getakteten IT-Business ist das schwer zu rechtfertigen.

Es gäbe neben der Berufslehre aber auch andere Wege für den Einstieg in die Branche. Warum kommen nicht mehr Fachkräfte aus anderen Kanälen wie etwa den Hochschulen?
Einerseits ist das schlicht eine Frage der Masse: Der allergrösste Teil der Einsteiger kommt aus der Berufslehre, weitere aus der höheren Berufsbildung, also mit Diplom, Fachausweis oder aus der höheren Fachschule, die ebenfalls eine Lehre gemacht haben. Aus den Fachhochschulen kommen ebenfalls viele Leute, von denen haben aber rund zwei Drittel zuvor ebenfalls die Berufslehre absolviert. Somit kommen etwa 80 Prozent der Fachkräfte aus der Berufslehre – das ist also schlicht die grosse Mehrheit. Und aus den Unis kommen verhältnismässig wenige Fachkräfte für den MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik).


…und trotzdem bietet die Wirtschaft nach wie vor zu wenige Lehrlinge aus. Wie überzeugen Sie die Verantwortlichen, hier zu investieren?
Wir sagen immer: Wer Fachkräfte ernten will, soll Lehrstellen säen. Wer Bachelor- und Master-Absolvierende haben will, muss mit Berücksichtigung der eben genannten Zahlen einsehen, dass die Basis­ausbildung gefördert werden muss.

Sehen Sie weitere Alternativen neben der Berufslehre oder den Hochschulabschlüssen wie Quereinsteigerprogramme oder firmeninterne Aus- und Weiterbildungsbemühungen als zielführend an, um den Druck etwas vom Lehrstellenproblem zu nehmen?
Absolut, ja. Wenn wir das Problem wirklich lösen wollen, müssen wir definitiv auch daran arbeiten, den Quereinstieg einfacher zu machen. Übrigens genauso wie den Wiedereinstieg, etwa nach einer Elternzeit.


Was im Rahmen der Recherche und der Vorbereitung dieses Themen­schwerpunktes immer wieder klar wurde: Unternehmen suchen viel zu oft nicht Lösungen für mehr Fachkräfte in der Branche, sondern bemühen sich stattdessen, attraktive Arbeitgeber zu sein, um Fachkräfte zu bekommen oder zu binden.
Das beobachten wir auch. Und ja, das sogenannte Retentionsmanagement ist etwas ganz anderes als echte Mangelbekämpfung.

…und das löst eben das Problem nicht.
Darum: Schafft Lehrstellen! Wir arbeiten aber auch an Programmen, um den erwähnten Quereinstieg zu vereinfachen. Hier geht es vor allem darum, es den Leuten finanziell zu ermöglichen, im Rahmen eines Quereinstiegsprogramms ihre Lebenshaltungskosten im Griff zu behalten. Die Finanzen sind nämlich gemäss einer Studie des Amts für Wirtschaft Zürich das grösste Problem für Quereinsteigende.

Wenn man das Bewusstsein schaffen will, dass mehr Unternehmen Lehrlinge ausbilden müssen – braucht es dann nicht auch ein entsprechendes Bewusstsein in der ganzen Gesellschaft und besonders in der Politik?
…und an diesem mangelt es derzeit leider wirklich. Es gibt viele Lippenbekenntnisse und Aufforderungen, dass man doch «sollte» und «müsste». Aber beispielsweise eine Finanzierung für ein von uns vorgeschlagenes Programm zu bekommen, ist nach wie vor enorm schwer. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation etwa stellt sich auf die Position, dass das alles einfach ein Problem der Wirtschaft ist.

Ist es das nicht auch?
Ja, das stimmt. Aber: Versuchen Sie doch mal, die ICT-Wirtschaft zu definieren. Das geht nicht, denn ICT ist überall drin. 60 Prozent unserer Fachkräfte arbeiten nicht in der ICT-Branche – sie sind in den Banken, Verwaltungen und anderen vertikalen Branchen.

Und wie sollte man das Problem in Angriff nehmen?
Es braucht einen Verband, der das Problem gemeinsam mit der Wirtschaft angeht, Massnahmen erarbeitet und umsetzt. Dieser braucht Geld und Sozialpartner. Das Problem: In der Schweiz haben wir aber etwa 30 ICT-Verbände unterschiedlicher Grössen. Die einzigen, die eine nachhaltige Lösung für dieses Problem haben, sind wir – aber wir sind eben nicht der Dachverband und wir haben zu wenig finanzielle Mittel! Das Wirksamste, das die Politik machen könnte, wäre hinzustehen und klar zu sagen: «Rauft euch zusammen, konsolidiert euch, werdet zu einer starken Organisation, die die Interessen der Wirtschaft auch vertreten kann.» Und eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste dieser Interessen, muss sein: Fachkräfte.

Ist das ein Aufruf an die anderen ICT-Verbände, sich mit Ihnen zusammenzuschliessen?
Konsolidierung wäre wichtig. Es bringt schlicht nichts, wenn jeder Verband sein Ding macht und man nicht an gemeinsamen Zielen arbeitet. Hier fehlt es an einem wichtigen militärischen Grundsatz: Einheitlichkeit der Handlung und Konzentration der Kräfte.


Ist das historisch bedingt? Der Verband der Schreinermeister etwa schafft es ja, politische Themen und die Berufsbildung unter ein Dach zu bringen.
Eher aus einem Mangel an Historie – der älteste der ICT-Verbände ist je nach Rechenart 69 Jahre alt. Der Gebäudetechnikverband, der heute einen Umsatz in achtstelliger Höhe macht, hat seine Wurzeln hingegen im Mittelalter und geht auf die Zünfte zurück. Das zweite Problem: Verbände zu fusionieren ist unglaublich schwierig. Auch, weil da viele einfach ihre Pfründe schützen wollen und automatisch X Verbandspräsidenten auf einen Schlag ihren Posten verlieren würden.

Was bräuchte es denn in Ihren Augen, um das zu ändern?
Entweder braucht es einen starken Präsidenten von einem der grossen Verbände, der eine solche Konsolidierung anstossen und aufzeigen kann, was der Mehrwert wäre. Die zweite Möglichkeit sehe ich wie gesagt im Druck aus der Politik. Es muss letztlich auch keine Fusion sein, aber eine Konsolidierung der Verbände.

Von wem sollte das in der Politik ausgehen? Gibt es politische Lager, die sich hier klar positionieren?
Die entsprechenden parlamentarischen Gruppen – das sind vor allem ePower und Parldigi – sind politisch sehr divers, da kann man kein bestimmtes politisches Lager ausmachen. Und von diesen Gruppen müsste der entsprechende Vorstoss kommen, um die Verbandspräsidenten an einen Tisch zu bekommen. Ich bin überzeugt, das würde helfen. Übrigens würde das auch gleich noch eine ganze Reihe weiterer Probleme lösen.

Welche denn?
Man hätte eine gemeinsame Lobby, Interessensvertretung in Bern, es gäbe eine Lösung für die Finanzierung der Berufsbildung, man könnte einheitliches Marketing für die Berufe und Integrationsthemen machen, man könnte eine Basis schaffen für den Export von IT-Dienstleistungen et cetera. Kurz: Man könnte alle Unternehmen innerhalb sowie ausserhalb der Branche organisieren und adressieren. Eine Konsolidierung der ICT-Verbände wäre ein unvorstellbarer Mehrwert. (win)


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