Seit fast drei Jahren befinden sich die Top-Manager der Unternehmen eigentlich stets in folgendem Dilemma: Einerseits müssen sie sehr kurzfristig auf die Folgen solcher Ereignisse wie der Coronapandemie und des Ukraine-Krieges, also zum Beispiel die bestehenden Lieferengpässe und rasant steigenden Preise reagieren. Andererseits müssen sie aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen die Weichen in ihrer Organisation so stellen, dass diese mittel- und langfristig mit Erfolg agiert.
Diese herausfordernde Aufgabe führt nicht wenige Manager an ihre Belastungsgrenzen – auch, weil sie aufgrund der vielen Fragezeichen am Horizont oft selbst nicht wissen, was es zu tun gilt, um die Existenz beziehungsweise den Erfolg des Unternehmens mittel- und langfristig zu sichern.
Viele Unternehmensstrategien stehen auf dem Prüfstand
Recht einfach lässt sich diese Frage bezogen auf die vielen Kleinunternehmen beantworten, die primär der Nahversorgung zum Beispiel der Bürger einer Stadt dienen. Sie können meist recht wenig tun. Bei ihnen lautet die Kernfrage: Sind die finanziellen Ressourcen verfügbar, um zum Beispiel die höheren Energiepreise zu bezahlen und die Folgen einer vorübergehend gesunkenen Kauflaune ihrer Kunden zu überstehen? Wenn nein, gehen sie irgendwann Konkurs; wenn ja, geht ihr Business meist weitgehend «as usual» weiter – sieht man von gewissen Umsatz- und Ertragsschwankungen ab.
Anders verhält sich dies bei Unternehmen, deren Markt ein multinationaler oder gar globaler ist. In ihnen haben sogar erfahrene Entscheider Schwierigkeiten zu beantworten, wie es mit dem Unternehmen weitergeht. Unter anderem weil zurzeit nicht abschätzbar ist, welche politischen Verwerfungen der Ukraine-Krieg bewirkt und welche schwarzen Schwäne, also unvorhersehbaren Ereignisse, die Unternehmen noch herausfordern.
Klar ist nur: Im Gefolge der Coronapandemie, des Ukraine-Krieges sowie den immer stärker spürbaren Folgen des Klimawandels haben sich die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns dieser Unternehmen so stark verändert, dass viele dazu gewungen sind, ihre bisherigen Strategien grundsätzlich zu überdenken.
Fragen über Fragen
Wie vielschichtig der Change- respektive Transformationsprozess im Gefolge der aktuellen Krisen ist, wird den Entscheidern meist erst bewusst, wenn sie die Ist-Situation reflektieren. So gibt es zurzeit zum Beispiel eine Reihe an makroökonomischen Fragen, die nicht endgültig zu beantworten sind:
- Wie wirkt sich die Ist-Situation auf die Staatengemeinschaft aus? Wird sie mittelfristig die EU weiter zusammenschweissen oder bleibt diese nur noch auf dem Papier bestehen?
- Wie wirken sich die Krisen auf die Nationalökonomien aus? Enthalten sie künftig mehr planwirtschaftliche Elemente und werden zwischen den Staaten höhere Handelsbarrieren errichtet?
- Entstehen weltweit mehr «failed States» und brechen die Lieferketten für gewisse Rohstoffe nachhaltig zusammen?
- Führen die veränderten Rahmenbedingungen zu einem verstärkten Übernahmeprozess in gewissen Branchen?
- Wie stark werden durch sie die digitale Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft und der Online-Handel gepusht?
Ähnliche Fragen stellen sich auf der mikroökonomischen Ebene:
- Wie wirkt sich der Kaufkraftverlust vieler Mitarbeiter aufgrund der Inflation auf deren Motivation und Bindung ans Unternehmen aus?
- Werden sich, weil in den Unternehmen aktuell viele Entscheidungen top-down getroffen werden müssen, deren Kulturen nachhaltig verändern?
Iterative und inkrementelle Strategieentwicklung
Fragen über Fragen, auf die man eigentlich eine Antwort bräuchte, wenn man eine Strategie zur langfristigen Sicherung des Erfolgs von Unternehmen entwerfen möchte. Doch diesbezüglich lassen sich zurzeit meist nur Hypothesen formulieren und hierauf aufbauende Szenarien entwerfen. Dies sollten die Top-Entscheider auch tun, denn eine ihrer Kernaufgaben ist es, in ihren Organisationen die Weichen in Richtung langfristiger Erfolg zu stellen.
Hierbei können sie, um zwei Termini aus dem agilen Projektmanagement zu gebrauchen, letztlich nur iterativ und inkrementell vorgehen. Das heisst, sie können aufgrund ihres jeweils aktuellen Wissensstands stets nur vorläufige Strategien und hierauf aufbauende Massnahmenpläne entwickeln, um dann regelmässig zu überprüfen: Waren die Annahmen, die ihnen zugrunde lagen, richtig oder müssen wir unsere Strategie modifizieren?
8 Tipps fürs agile Entscheiden
Hier einige Tipps, wie man bei der Strategie-Entwicklung in einer so diffusen Entscheidungssituation wie der aktuellen vorgehen sollte.
Tipp 1: Sich die Komplexität der Entscheidungssituation bewusst machen.Man sollte sich zum Beispiel vor einem Strategieworkshop mit den Top-Entscheidern überlegen, in welchen Bereichen sich aufgrund der aktuellen Situation in naher Zukunft für das Unternehmen relevante Veränderungen vollziehen könnten. Als Grundlage können zum Beispiel die Fragen zu den makro- und mikoökonomischen Entwicklungen dienen. Zu Beginn des Workshops muss man den Mitstreitern aber mittels Beispielen verdeutlichen, wie komplex die aktuelle Entscheidungssituation ist und dass sie sich bei der Strategieentwicklung weitgehend auf Annahmen stützen müssen. Deshalb kann die beschlossene Strategie nur eine vorläufige sein, die regelmässig überprüft und gegebenenfalls modifiziert werden muss.
Tipp 2: Der eigenen Rolle bewusst sein.In einem diffusen, von rascher Veränderung geprägten Umfeld können strategische Entscheidungen meist nicht im Konsens getroffen werden. Vielmehr muss irgendwann eine Person sagen: «So machen wir es, selbst wenn damit die Risiken A, B und C verbunden sind.» Man muss sich vor dem Strategieworkshop überlegen, was die eigene Kernfunktion ist, damit man sich hierfür wappnen kann.
Tipp 3: Moderation durch neutralen Experten. Es ist eine Überlegsung wert, ob ein neutraler Experte den Strategieworkshop moderieren sollte. Aufgrund ihrer Funktion in der Organisation werden die Teilnehmer die Ist-Situation, die aus ihr resultierenden Risiken und Chancen und somit auch die Handlungsmöglichkeiten verschieden einschätzen. Entsprechend gross ist die Gefahr, dass sie sich in endlosen Detail- und Was-wäre-wenn-Diskussionen verlieren. Deshalb sollte ein neutraler Moderator die Diskussion steuern – speziell dann, wenn auch harte Entscheidungen anstehen.
Tipp 4: Die Entscheidungsfelder und deren Wechselwirkungen ermitteln.Man muss sich in dem Workshop zunächst bewusst machen, inwieweit sich die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns bereits geändert haben und noch verändern könnten und was dies für das Unternehmen bedeutet. Man muss zudem die Wechselwirkungen analysieren: Was würde es zum für Beschaffung, Produktion und Verkauf bedeuten, wenn sich im Gefolge der Krisen die Handelsbarrieren erhöhen und die Märkte stärker reguliert werden?
Tipp 5: Von Szenarien und Handlungsoptionen.
Es gilt, aufgrund der Analyse mögliche Zukunftsszenarien für das Unternehmen und seinen Markt zu entwerfen und daraus strategische Handlungsoptionen für die Organisation abzuleiten. Dazu muss man eine möglichst objektive Entscheidungsbasis schaffen. Doch man muss sich bewusst sein: Auch die scheinbar objektivste Entscheidungsbasis beruht auf zahlreichen Annahmen.
Tipp 6: Strategische Entscheidungen nicht überhastet treffen.
Wenn Optionen bekannt sind, muss man überlegen, ob die aktuelle Situation eine sofortige Entscheidung erfordert. Das ist in der Regel nur bei akuten Krisen der Fall, wenn es zum Beispiel darum geht, die Liquidität eines Unternehmens zu sichern; ansonsten eher selten. Man muss prüfen, selbst wenn eine sofortige Entscheidung gewünscht ist, ob es nicht zielführender wäre, diese einige Tage aufzuschieben. Denn dies eröffnet einem die Chance, die Optionen nochmals mit Personen, die eine andere Sicht auf den Entscheidungsgegenstand haben, zu diskutieren, und so eventuell zu einer veränderten Sichtweise zu gelangen.
Tipp 7: Das Bauchgefühl hinterfragen.
Ein Vertagen der Entscheidung ermöglicht es auch, nochmals zu reflektieren, warum gewisse Entscheidungen präferiert werden. Man kann sich zum Beispiel fragen: Welche Motive, Hoffnungen veranlassen mich zu meiner Präferenz? Welche Glaubensätze stecken dahinter, die eventuell keine Relevanz mehr haben? Dies ist Entscheidern, wenn es in einem Workshop heiss hergeht, oft nicht bewusst. Mit etwas zeitlichem Abstand werden ihnen diese Faktoren aber meist bewusst. Das veranlasst sie häufig dazu, ihr klares Ja oder Nein zu gewissen Optionen zu relativieren. Deshalb können Entscheidungen dann oft eher im Konsens getroffen werden, was wiederum für ihre Tragfähigkeit relevant ist.
Tipp 8: Nicht an schlechten Entscheidungen festhalten.
Gegen Ende des Workshops muss man sich nochmals vor Augen führen, auf welchen Annahmen die Entscheidungen beruhen – zum Beispiel darüber, wie sich der Markt entwickelt. Anschliessend müssen Termine vereinbart werden, an denen überprüft wird, inwieweit die Annahmen richtig waren und die initiierten Massnahmen zielführend sind.
Das erleichtert es den Mitstreitern, die andere Lösungen präferierten, sich mit den Entscheidungen zu arrangieren. Denn auch sie wissen, dass die Lösungen entweder über Bord geworfen oder neu justiert werden, falls sie sich als unpassend erweisen.
Der Autor
Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung
Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist unter anderem Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-Provence, der St. Galler Business-School und der technischen Universität Clausthal.