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CIO-Interview: «Für mich hängt Innovation mit ­Modernisierung zusammen»
Quelle: Helvetia

CIO-Interview: «Für mich hängt Innovation mit ­Modernisierung zusammen»

Die Helvetia Gruppe hat mit Achim Baumstark einen CTO, der 2021 als einer der Top CIOs des Landes ausgezeichnet wurde. Ihm obliegt mit seinem Team unter anderem die Aufgabe, die Zukunftssicherheit der IT des Versicherers zu gewährleisten.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2022/04

     

«Swiss IT Magazine»: Herr Baumstark, was hat Sie am Job des CTO bei der Helvetia Gruppe am meisten gereizt, als Sie diesen übernommen haben?
Achim Baumstark:
Die Helvetia Gruppe ist ein Multiliner mit einem vollen Portfolio und interessanten Business-Herausforderungen in einem internationalen Umfeld. Aus Sicht der IT ist das sehr spannend. Ich habe immer IT gemacht, ich bin von meiner gesamten Ausbildung her gesehen durch und durch IT-Spezialist und kokettiere nach wie vor mit dem Fakt, dass ich eigentlich nicht so viel von Versicherungen verstehe wie meine Kollegen, die schon seit 30 und mehr Jahren in diesem Geschäft tätig sind. Im Vergleich dazu bin ich mit meinen zwölf Jahren Erfahrung fast noch ein Rookie.

Und was bedeutet Ihnen die Auszeichnung als einer der Schweizer Top CIOs des Jahres 2021?
Das ist in der Tat etwas Spezielles. Mein Team und ich haben sehr viel gearbeitet, denn Helvetia hat durchaus Herausforderungen, die in der IT zu hohen Belastungen führen. Auch deshalb bedeutet mir die Auszeichnung viel und hat mich besonders für das Team gefreut.


Wenn Sie schon Ihr Team ansprechen, wie gross ist dieses, und wie ist es in der Helvetia Gruppe eingebettet?
Die IT der Helvetia Gruppe beschäftigt Stand heute rund 400 interne Mitarbeitende. Hinzu kommen noch etliche ­externe Mitarbeitende. Es handelt sich dabei um eine Zusammenarbeit, die auf die Skill Sets fokussiert, die wir benötigen. Ich selbst rapportiere in meiner Rolle als CTO direkt an Philipp Gmür, den CEO der Gruppe, und bin Teil der Konzernleitung, was zum Ausdruck bringt, dass die IT für Helvetia einen hohen Stellenwert hat.

Und wie ist das IT-Team organisiert?
Mein Team ist entlang eines einfachen Domänenmodells strukturiert, also ähnlich einer Anwendungslandschaft. Wir haben ein Team, das sich um die vielen Frontend-Systeme kümmert, während ein anderes die Core-Systeme, sprich die klassischen Bestandes- und Schadenssysteme, über alle Sparten hinweg betreut. Ein weiteres ist für die Cross-Bereiche zuständig, wo die ganzen Gruppenfunktionen wie das Aktuariat, die Finanzen oder das HR angesiedelt sind, und darunter finden sich die infrastrukturellen Themen, die ebenfalls einem Team zugeordnet sind. Data Analytics ist hingegen eine separate Einheit, die aus Mitarbeitenden des Business und der IT besteht. Ergänzt wird das Ganze durch ein Service-Management-Team, in dem viele Funktionen gebündelt sind, die IT als Service Provider voranbringen, das Service-Kostenmanagement machen oder auch Governance-Aufgaben übernehmen. Wir haben also sechs Ressorts, die entlang einer applikatorischen Struktur aufgebaut sind.

Entwickeln Sie und Ihr Team auch selbst Software-Lösungen? Und wo kommen diese zum Einsatz?
Der Kunde steht für Helvetia im Zentrum. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns in den Bereichen, in denen wir auf IT-Seite direkt mit den Kunden interagieren, differenzieren können. Aus diesem Grund entwickeln wir solche Lösungen, wie beispielsweise die Frontends, meist selbst, denn es wäre wohl schwierig, hierfür ein Angebot einzukaufen, das diese Differenzierung ermöglichen würde. Damit haben wir bisher gute Erfahrungen gemacht. So können wir uns auf das fokussieren, was mehr Differenzierungspotenzial hat, während wir Systeme oder Lösungen, die für die Kunden und für Helvetia nicht so relevant sind, einkaufen. Dabei muss man sich natürlich immer wieder fragen, wo eine externe Lösung reinpasst, wo es am Markt ein geeignetes Offering gibt und wie man dieses in die bestehende Systemlandschaft einbindet.


Arbeiten Sie auch mit externen Partnern zusammen, und wenn ja, in ­welchen Bereichen?
Dort, wo wir auf Effizienz achten, versuchen wir, unsere Wertschöpfungstiefe bezüglich unseres ganzen Setups zu verändern. Wir haben deshalb auch Partnerschaften, in denen wir gewisse Bereiche der IT an Dritte übergeben. So machen wir beispielsweise ein Nearshoring mit einem Provider für unseren SAP Backbone. Dieser führt Wartungs- und auch kleinere Entwicklungsarbeiten für uns durch. Wir haben auch die Verwaltung der Clients, sprich die Ausstattung und den Betrieb unserer Laptops, einem externen Partner vergeben. Es gibt einige Bereiche, in denen wir über Partnern sprechen und nicht mehr über Lieferanten, bei denen wir Dienstleistungen einkaufen.

Könnten Sie auch die Auslegeordnung der IT-Infrastruktur der Helvetia Gruppe erläutern?
Als ich in meiner neuen Position als CTO angefangen habe, hatte die Helvetia Gruppe einen Investitionsstau. Einen solchen haben viele Versicherer, ganz einfach deshalb, weil sie schon sehr früh IT eingesetzt haben und ihre Systeme über viele Jahre gewachsen sind, eine hohe Komplexität aufweisen und sehr schwer abzulösen sind. Die Landschaft ist oftmals verbaut und hat deshalb viele Abhängigkeiten. Es gilt also, die Komplexität zu reduzieren. Aus diesem Grund sind wir gerade dabei, die ganzen Frontend-Applikationen, die mit den Kunden und dem Vertrieb zusammenhängen, komplett neu aufzubauen und in die Cloud zu verschieben. Damit können wir einen grossen Teil alter Applikationen ablösen. Im Bereich der Core-Applikationen versuchen wir hingegen, auf die wesentlichen Applikationen zu fokussieren und nicht alles gleich umzubauen. Dies, weil in diesem Bereich auch noch einige IBM-Mainframe-Anwendungen zu finden sind. Zwar haben auch hier eine Konsolidierung und Reduktion der Komplexität stattgefunden, aber wir sind mit unserer Cloud-Reise noch nicht so weit. Dafür nehmen wir uns die nötige Zeit, denn diese Systeme arbeiten im Hintergrund und sind für unsere Kunden nicht sichtbar. Hingegen haben wir bei den Gruppenfunktionen, wo die IT sehr SAP-lastig ist, bereits alle SAP Backbones in die Cloud verlegt. Auch andere ­Bereiche sind schon in der Cloud, so zum Beispiel Data Analytics sowie die gesamten Collaboration- und Kommunikationssysteme. Und schliesslich verlegen wir gerade noch die letzten Restbestände an Applikation en Bloc in die Cloud.

Die Mainframes stellen vermutlich eine Hypothek dar. Wie gehen Sie ­damit um?
Wir haben für die nächsten Jahre noch laufende Verträge mit den Anbietern, müssen aber ganz klar auch die letzten Applikationen von den Mainframes wegbringen. Grund dafür ist, dass die Kosten steigen – nicht nur für uns, sondern auch für die Anbieter. Diese Applikationen wollen wir mit unterschiedlichen Strategien auf andere Plattformen migrieren oder ablösen.


Abgesehen von diesen Herausforderungen, wie steht es sonst um die Digitalisierung bei Helvetia?
Versicherungen sind datengetriebene Unternehmen. Es könnte aber noch sehr viel mehr passieren hinsichtlich der Nutzung dieser Daten zum Nutzen der Kunden, wie personalisierte und vereinfachte Angebote. Worüber ich mit meinem IT-Hintergrund immer wieder nachdenke, ist die Prävention. Wir haben viele Bereiche, in denen wir Deckungen anbieten und mit Prävention arbeiten – oftmals über Drittanbieter, in denen aber noch viel Entwicklungspotenzial liegt, was die Angebote für die Kunden angeht. Als Unternehmen – und da muss ich wohl Selbstkritik üben – sind wir noch nicht komplett digital. Wir arbeiten daran, müssen aber auch viele Kompromisse eingehen, denn es ist nicht das einzige Ziel des Unternehmens, digitaler zu werden. Digitalisierung ist aber ein breites Feld, und in vielerlei Hinsicht sind wir gut aufgestellt. So zum Beispiel in Bezug auf die Arbeitsformen: Wir können heute unsere Mitarbeitenden unterstützen, wenn sie von irgendwoher arbeiten wollen. Das dezentrale Arbeiten mittels Kollaborationstools funktioniert sehr gut. Worin wir hingegen noch nicht so gut sind, ist, das Automatisierungspotenzial in allen Bereichen auszuschöpfen. Auch das führt zu einem besseren Kundenerlebnis: wenn man die Prozesse vom Kunden zum Kunden denkt und dort dann den Automatisierungsgrad erhöht. Darüber hinaus gibt es wie in den meisten Unternehmen auch bei uns noch Papierprozesse, die es abzulösen gilt.

Und wie denken Sie als CTO über Innovation nach?
Für mich hängt Innovation sehr stark mit Modernisierung und Zukunftssicherheit zusammen. Ich glaube, dass die Versicherer nie die Rolle einnehmen werden, die ein Unternehmen wie Amazon in Bezug auf die Innovation einnimmt, indem sie beispielsweise neue Konzepte dafür entwickeln, wie eine Kundeninteraktion aussieht. Aber wir müssen Schritt halten und wir müssen Innovation so denken, dass wir solche Konzepte übernehmen und dazu nutzen können, den Kunden eine Erfahrung zu bieten, wie sie sie auch woanders machen können. Konkret bedeutet dies eine schnelle Adaption wichtiger Trends und eine Anpassung der internen Produkt- und Prozessstrukturen. Und natürlich bedeutet Innovation auch, sich Gedanken zu machen, wie man beispielsweise die Prävention gestalten könnte, ich denke hierbei an Technologien rund um das Internet of Things. Aber der Markt ist noch nicht reif dafür, und auch wenn Innovation bei Helvetia ein wichtiges Traktandum ist, in das wir auch investieren, so steht es für uns angesichts der vielen Herausforderungen nicht im Fokus. Innovation ist also kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für die Zukunftssicherheit und die Umsetzung unserer strategischen Prioritäten, und wir haben in den letzten Jahren trotz schwieriger Rahmenbedingungen einiges erreicht, wie beispielsweise die bereits erwähnte Cloud Journey oder unsere Bemühungen im ­Bereich Data Analytics.

Welche sind die grössten Baustellen oder Herausforderungen, denen Sie derzeit gegenüberstehen?
Wenn ich über Herausforderungen spreche, dann auch unweigerlich über die Frage, wie ich einen noch höheren Wertbeitrag zur Zukunftssicherheit der Helvetia Gruppe leisten kann. Tue ich genug dafür? Könnte ich noch mehr machen? Ich stehe vor der Herausforderung, die rasanten technologischen Entwicklungen in unsere IT einfliessen zu lassen. Man muss sich vorstellen, dass sich allein in den letzten drei bis vier Jahren fast alles verändert hat, wie beispielsweise die Anforderungen an das Know-how der Mitarbeitenden, wobei unter anderem auch die Anforderungen aus regulatorischer Sich steigen. Und gleichzeitig müssen wir die Kosten unter Kontrolle halten. Dies alles unter einen Hut zu bringen ist aus meiner Sicht die grösste Challenge.


Sie sagen, dass sich die Anforderungen an das Know-how der Mitarbeitenden erhöht haben. Wo finden Sie die geeigneten Leute für ihr Team?
IT-Fachkräfte zu finden ist schwieriger geworden. Das haben wir vor allem in den letzten zwölf Monaten stark gespürt, auch in den Gehaltsstrukturen. Es gibt einige Bereiche, in denen Spezialisten dünn gesät sind. Wir versuchen deshalb, unsere eigenen Leute weiterzubringen. Dafür haben wir unter anderem auch eine Akademie eingerichtet, in der wir das Know-how unserer Mitarbeitenden in strategischen Schwerpunktthemen wie Cloud, Analytics oder Integration auf- und ausbauen. Auch versuchen wir, die Netzwerke unserer Mitarbeitenden zu nutzen, um IT-Fachkräfte zu rekrutieren. Gleichzeitig haben wir mit Basel einen guten Standort, der durch die Nähe zu Süddeutschland und dem Elsass ein grosses Einzugsgebiet hat und mit der Pharmaindustrie viele IT-Spezialisten anzieht.

Wie Sie eingangs erklärt haben, befinden Sie sich mitten im Cloud Shift. Wie weit ist dieses Projekt fortgeschritten und wann wird es abgeschlossen sein?
Aktuell befinden sich zwischen 50 bis 60 Prozent der Anwendungslandschaft in der Cloud, und bis Ende des ersten oder zweiten Quartals nächsten Jahres werden es 95 Prozent sein. Dann werden lediglich die Host-Anwendungen verbleiben, die noch in einem klassischen Rechenzentrum laufen.

Können Sie skizzieren, wie die zukünftige IT-Strategie der Helvetia Gruppe aussieht?
Die aktuelle Strategieperiode läuft bis 2025. Bis dahin stehen noch einige Grossprojekte an. Nebst dem Cloud Shift wird Salesforce in der Schweiz ausgerollt. Darüber hinaus treiben wir die Entwicklung der Frontend-Systeme in den Sparten voran, in denen diese noch nicht im Einsatz sind. Und weiter steht auch ein Neuaufbau unserer Data Warehouses in der Cloud auf dem Programm. Dies sind die grössten Projekte, die bereits angelaufen sind und in den nächsten zwei bis drei Jahren abgeschlossen sein werden.


Und wohin wollen Sie sich als CTO von Helvetia künftig entwickeln?
Im Moment verändert sich sehr viel. Ich stehe mit einem Bein in der Technologie- und mit dem anderen in der Versicherungswelt. Die Technologiewelt macht derzeit unheimlich schnelle Veränderungen durch. Man muss sich das so vorstellen: Mein Team bei Helsana hat noch Preise gewonnen für die Integration eines CRM mit einem Kernsystem, basierend auf Technologien, die heute völlig veraltet sind – und das in nur wenigen Jahren. Eine Herausforderung, die mir allerdings viel Spass macht, weil sie immer neue Möglichkeiten und Gelegenheiten eröffnet. Die Versicherungsindustrie auf der anderen Seite ist in ihrer Entwicklung nicht so schnell. Den Spagat zwischen diesen beiden Welten zu managen, bietet mir ein sehr spannendes Umfeld, und es vergeht kein Tag, and dem ich nicht mit neuen Fragestellungen konfrontiert bin. Darüber hinaus habe ich ein tolles Team, und zusammen legen wir aktuell unseren Fokus auf den Wertbeitrag, den Technologie und IT bei Helvetia leisten können. Und wir stellen uns immer wieder die Frage, wie man diesen erhöhen kann.

Achim Baumstark

Achim Baumstark (57) hat in den 1980er Jahren in Karlsruhe Informatik mit Schwerpunkt Maschinenbau studiert und war danach während zehn Jahren im Consulting tätig. In dieser Zeit war er während mehreren Jahren unter anderem in Ungarn, in den USA und in Frankreich unterwegs. Später wechselte er auf Kundenseite zu Daimler Chrysler und arbeitete während zehn Jahren in der Automobilindustrie. Daraufhin nahm er eine Stelle am Hauptsitz der Zurich Versicherung an, wo er später zum CIO für den Schweizer Markt aufstieg. Es folgte ein Abstecher bei Helsana als Leiter der Informatik, bevor er schliesslich Ende 2016 den Posten als CTO und Mitglied der Konzernleitung der Helvetia Gruppe übernahm. Im September 2021 erhielt er ausserdem eine Auszeichnung als einer der Schweizer Top CIOs des Jahres.

Zum Unternehmen

Helvetia Versicherungen mit Sitz in St. Gallen hat sich seit 1858 zu einer Versicherungsgruppe mit insgesamt über 11’500 Mitarbeitenden und mehr als 7 Millionen Kunden entwickelt. Helvetia zählt zu den führenden Schweizer Versicherungsunternehmen und sichert Leben- und Nicht-Lebenrisiken ab. Der Fokus liegt auf Privatkunden sowie kleinen und mittleren Unternehmen. In ausgewählten Branchen werden auch Grossunternehmen versichert. Helvetia ist im Heimmarkt Schweiz tätig und verfügt mit den zum Marktbereich Europa zusammengefassten Ländern Deutschland, Italien, Österreich und Spanien über ein zweites starkes Standbein. Zudem ist Helvetia mit dem Marktbereich Specialty Markets in Frankreich und über ausgewählte Destinationen weltweit präsent und bietet massgeschneiderte Spezial- und Rückversicherungsdeckungen an. In der Schweiz arbeiten etwa 3600 Personen für Helvetia. (luc)


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