Wo ein Unternehmen ist, sind Eingangsrechnungen nicht weit entfernt. Um den eigenen Betrieb aufrechtzuerhalten, muss jede Organisation – egal ob Grosskonzern oder Kleinunternehmen – Rechnungen verbuchen und bezahlen. Laut verschiedenen Umfragen sind speziell bei KMU die hiermit verbundenen Prozesse noch immer geprägt von manuellen Handgriffen, was wertvolle finanzielle und zeitliche Ressourcen bindet. Dank modernster Machine-Learning (ML)-Technologie erhalten KMU nun die Möglichkeit, ihre gesamte Rechnungsverarbeitung komplett zu automatisieren. Der Schlüssel dazu heisst Dokumentenextraktion.
Die Evolution der Dokumentenextraktion
Ohne sauberes Datenmaterial lassen sich keine nachgelagerten Prozesse maschinell abwickeln. Folglich kommt der Extraktion von Belegen eine zentrale Bedeutung zu, wenn es um die Verselbständigung der Buchhaltung geht. Bis anhin existierten zwei Optionen, um die Daten einer erhaltenen Rechnung auszulesen. Zum einen können Menschen die unterschiedlichen Rechnungsinformationen wie beispielsweise das Datum, den Rechnungsbetrag oder die Bankverbindung manuell in ein System einpflegen. Dieser heute noch weitverbreitete Ansatz ist aber äusserst langsam, fehleranfällig und ausserdem nicht skalierbar.
Eine Alternative zur manuellen Datenerfassung bietet die Optical-Character-Recognition (OCR)-Technologie, deren Ursprung ins Jahr 1960 zurückdatiert. Ins Deutsche lässt sich OCR mit dem Be-griff «optische Zeichenerkennung» übersetzen. OCR-Technologie erlaubt Anwendungen, die verschiedenen Charaktere, Zahlen und Zeichen auf einer gescannten Rechnung zu erkennen sowie die einzelnen Textbausteine (z.B. Lieferantenadresse oder Rechnungsbetrag) automatisch zu extrahieren. Dadurch entfällt für Unternehmen die manuelle Dateneingabe in eine Buchhaltungssoftware. Damit dieser Vorgang einwandfrei funktioniert, müssen KMU aber vorab Regeln und Templates für jede einzelne Rechnung definieren. Dies ist notwendig, da sich beispielsweise das Layout einer Swisscom-Rechnung stark von demjenigen einer kantonalen Steuerrechnung unterscheidet. Doch auch wenn Swisscom das eigene Layout anpasst (z.B. Rechnungsadresse neu links anstatt rechts), setzt dies wiederum eine Anpassung am entsprechenden Template voraus. Geht die Modifikation vergessen, lässt sich die automatische Belegextraktion und nachfolgende Verbuchung nicht durchführen. Generell kann herkömmliche OCR-Technologie nicht mit unstrukturierten Daten sowie Variationen umgehen. Setzt also ein KMU auf die Rechnungsverarbeitung mithilfe von OCR, resultieren daraus häufig hohe Kosten (Implementierungs-, Software- und Extraktionskosten pro Rechnung) sowie manuelle Arbeiten.
ML-basierte OCR-Technologie als Gamechanger
Wie bereits erläutert ist OCR an sich keine neue Erfindung. Die Herausforderung besteht vor allem darin, die Belegextraktion zu flexibilisieren und dadurch manuelle Handgriffe in den Unternehmensprozessen zu eliminieren. Machine-Learning-basierte OCR-Technologie bringt uns diesem Traum näher. Der Ansatz erlaubt es, die statischen und regelbasierten Templates der herkömmlichen OCR-Technologie mit flexiblen Feldern (z.B. Lieferantennamen oder Rechnungsbetrag) zu ersetzen. Dazu dienen selbstlernende Algorithmen, welche anhand von unzähligen Dokumenten trainiert und laufend weiterentwickelt werden. Dadurch erhält die KI-Plattform wertvolle Anhaltspunkte, um zu lernen, wie beispielsweise ein Lieferschein oder eine Rechnung aufgebaut ist. Mittels Abstraktion gelingt es dann, Dokumente immer besser zu verstehen und die Daten noch strukturierter auszulesen.
Die extrahierten Dokumentendaten und das Know-how der KI-Plattform ebnen in einem weiteren Schritt den Weg, um kostspielige und zeitaufwendige Prozesse vollständig zu automatisieren. Zusammengefasst bietet ML-basierte OCR-Technologie folgende Vorteile:
- Unstrukturiert, semi-strukturiert oder strukturiert, ML-basierte OCR nimmt Dokumente so, wie sie sind.
- Einzelpositionen auf Dokumenten werden durch ML-basierte OCR mühelos identifiziert, erfasst, aufbereitet und extrahiert.
- Schnellere Durchlaufzeiten sind möglich und dadurch eine Produktivitätssteigerung bei gleichen Zeitressourcen.
- Exzellente Qualität der Datenaufbereitung und -extraktion und damit insgesamt eine Zeit- und Kostenreduzierung in den Prozessen.
- Die extrahierten Daten geben tiefe Einblicke und können für jegliche weiteren Analysen und Automatisierungen verwendet werden.
Der Einsatz eines solchen Systems erscheint überall dort sinnvoll, wo dokumentenbasierte Prozesse existieren. Von der KI-Plattform können demnach Unternehmen aus allen Branchen profitieren. Doch speziell für KMU eröffnen sich dadurch neue Optionen, um kosten- und zeitintensive Prozesse wie etwa die Rechnungsverarbeitung komplett zu verselbständigen.
ML, Buchhaltung und Automatisierung
OCR-Anwendungen gelten wie erwähnt als äusserst kostspielig und pflegeintensiv, weshalb viele KMU die eigenen Belege nach wie vor manuell in einer Buchhaltungssoftware einpflegen. Besonders in Kleinunternehmen bleibt diese Tätigkeit häufig am Unternehmensinhaber haften. Moderne Buchhaltungsplattformen können hier Abhilfe schaffen. Dabei kommen KI-Plattformen zum Einsatz, mit denen sich die Eingangsrechnungen der KMU voll automatisiert auslesen lassen. Hierbei spielt es dank der ML-basierten OCR-Technologie keine Rolle, ob es sich um eine Rechnung vom Bäcker ums Eck oder die monatliche Swisscom-Rechnung handelt.
Die generierten Dokumentdaten können zudem in einem zweiten Schritt genutzt werden, um buchhalterische Vorgänge wie etwa Bankabgleiche, Verbuchung der Geschäftsfälle oder die Spesenabrechnungen weitmöglichst zu automatisieren. Als Basistechnologie bietet sich auch hier wiederum Machine Learning an. Und: maschinelles Lernen kann auch ganz andere Vorgänge automatisieren, etwa den Kundensupport anhand von Spracherkennung und Chatbots oder das Extrahieren von eingehenden Daten, etwa um Kundenprofile zu personalisieren, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Der Autor
Alain Veuve ist Parallel-Unternehmer mit Fokus auf Technologie-Start-ups. Zu seinen Engagements zählen das Deep-Tech Start-up
Parashift, das Buchhaltungs-Start-up Accounto, das Proptech-Start-up Fairwalter und TYPO3 in Düsseldorf. Zudem ist Alain Veuve Gründer des Company-Builders TREA Ventures. In der Tech-Community ist Veuve ein vielzitierter Thought-Leader für die digitale Transformation in Europa, der regelmässig als Referent an Konferenzen teilnimmt. 2017 wurde er von Linkedin als eine der Top 20 Voices in Europa ausgezeichnet und Xing zählte Veuve 2017 zum Kreis der Spitzenwriter. Alain Veuve schreibt zudem regelmässig für verschiedene Publikationen.