Jane schaut auf über 14 Jahre bei Vodafone zurück: Beschaffung, Netzwerkstrategie, Business Intelligence. Sie hat eine aktuelle Weiterbildung als Project Management Professional (PMP), gute Englischkenntnisse und ist konversationssicher in Deutsch. Und trotzdem fand sie in der Schweiz bisher keine Stelle.
Jane heisst nicht wirklich Jane. Aber ihr Name tut nichts zur Sache, denn so wie Jane ergeht es unzähligen qualifizierten Migrantinnen. In ihrem Heimatland haben sie studiert und zum Teil Karriere gemacht, hier arbeiten die Fachfrauen als Raumpflegerin oder im Gastgewerbe, um über die Runden zu kommen. Oder sie sind vom Lohn ihres Ehemanns abhängig. "Da läuft doch etwas schief", sagt Giuliana Tedesco, stellvertretende Geschäftsleiterin von ECAP, "schliesslich herrscht hierzulande ein Mangel an Fachkräften." Tedesco weiss, wovon sie spricht: Trotz Uniabschluss arbeitete sie nach ihrer Einwanderung aus Italien in der ersten Zeit in der Reinigung und einer Fabrik. Heute ist sie Managerin in einem Unternehmen mit über 850 Angestellten.
SECO unterstützt das Projekt
Das Erwachsenenbildungsinstitut ECAP setzt sich seit bald 50 Jahren für die Bildung von Migrantinnen und Migranten ein. Und für die Gleichstellung von Frau und Mann. Das Projekt ICT@migrants geht einen Schritt weiter: Es will qualifizierten Berufsfrauen mit ICT-Know-how den Einstieg in die Branche ermöglichen und damit ihre Integration fördern. Im Rahmen der Fachkräfteinitiative leistet das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO finanzielle Unterstützung. Partner sind der Schweizerische Verband für Weiterbildung SVEB sowie Arbeitsintegration Schweiz.
"Wir wollen diesen gut ausgebildeten Frauen die Chance eröffnen, zumindest einmal einen Fuss in die Türe zur Informatikbranche zu bekommen", sagt Projektleiterin Giuliana Tedesco. Man sei aber ganz klar keine Informatikschule – vielmehr gehe es darum, den Stellensuchenden aufzuzeigen, wie der Schweizer Arbeitsmarkt funktioniert. "Dieser unterscheidet sich mitunter ganz wesentlich von jenem im jeweiligen Herkunftsland unserer Kursteilnehmerinnen".
In der Schweiz ist es zum Beispiel eine Selbstverständlichkeit, dass ein künftiger Arbeitgeber von einer Bewerberin einen Lebenslauf und Zeugnisse sehen will. In anderen Kulturkreisen würden solche schriftlichen Bestätigungen und Beurteilungen schlicht nicht existieren, so Giuliana Tedesco. "Und wieder anderswo geziemt es sich für eine Frau nicht, einem Fremden eine Mobilnummer preiszugeben."
Männer als Karrierekiller
Nicht immer sind es übrigens Kriege oder fehlende Zukunftsperspektiven, die diese Frauen in die Schweiz gebracht haben. Häufig sind es familiäre Umstände: Ihr Mann hat in der Schweiz eine Stelle gefunden oder wurde von seinem Unternehmen hierher versetzt. Auf die Unterstützung des Ehemannes bauen, sei für die Frauen meist keine Option, weiss Tedesco. Die Männer nämlich würden sich häufig als Karrierekiller entpuppen, wenn es um die eigene Frau geht. "Das hat aber kaum je mit Boshaftigkeit oder Berechnung zu tun, sondern schlicht und einfach mit der Unkenntnis der hiesigen Verhältnisse."
Der Startschuss zu ICT@migrants ist Anfang 2018 erfolgt. 20 Frauen haben an einer Standortbestimmung teilgenommen und ihre beruflichen Ziele formuliert; sie stammen aus 14 Ländern, von Peru über Spanien und Griechenland bis hin zu Lettland und Sri Lanka. Etwas mehr als die Hälfte der Frauen hat wirklich Erfahrung im Informatikbereich. Die übrigen sind potentielle Quereinsteigerinnen mit grosser Affinität zu Technik und Technologie. In einem Assessment wurden ihre Fähigkeiten und Eigenschaften im Hinblick auf das Arbeiten in der ICT-Branche anhand von Verhaltens- und Arbeitsproben eingeschätzt. In einer persönlichen Beratung wurden ihnen passende Berufsprofile aufgezeigt. Mentorinnen und Mentoren bereiteten sie schliesslich auf ein Praktikum von drei bis sechs Monaten vor und unterstützten sie bei der Suche von Praktikumsstellen mit ihrem Netzwerk.
Eigene Chancen realistisch einschätzen lernen
Nicht in jedem Fall erfolgt die Suche in der ICT-Branche: Einigen Frauen wurde aufgrund mangelnder, nicht mehr aktueller ICT-Kenntnisse oder ungenügender Sprachkenntnisse klar gemacht, dass sie ihre beruflichen Vorstellungen anpassen müssen. Doch ICT@migrants lässt diese Frauen nicht fallen, sondern unterstützt sie dennoch auf der Suche nach einem Praktikum oder einer Weiterbildung. Und so leisten einige Teilnehmerinnen ihren Praktikumseinsatz in einer Bäckerei oder einer Kita. "Das realistische Einschätzen der beruflichen Chancen und allfällige Umorientieren ist ein wichtiger Teil von ICT@migrants", so Tedesco.
Sieben der 20 Berufsfrauen haben bisher tatsächlich ein Praktikum im ICT-Bereich gefunden, darunter zwei bei Dell EMC Schweiz. Edwin Glas, Talent Acquisition Lead Switzerland bei Dell EMC, spricht von einer positiven Erfahrung: "Die zwei Praktikantinnen verfügen über ein fundiertes Fachwissen und eine umfangreiche Erfahrung in ihrem Aufgabengebiet. Sie setzen ihr erworbenes Wissen sehr erfolgreich in die Praxis um und finden sich in neuen Aufgabenstellungen leicht zurecht. Selbst bei grössten Anforderungen arbeiten sie konzentriert und erbringen eine hervorragende Leistung." Glas betont, es sei schwierig, qualifizierte IT-Fachleute zu finden. Deshalb sei ICT@migrants nicht nur für die Berufsfrauen, sondern auch für Dell EMC "eine super Chance". Von einer "super Chance", nach fünf Jahren Familienpause den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu schaffen, spricht auch eine der Praktikantinnen bei Dell EMC, die Ägypterin Christine Phelopos. Die 36-jährige Telekomingenieurin hat sieben Jahre lang in diversen Funktionen bei Ericsson Ägypten gearbeitet und unterstützt nun das Pre-Sales-Team von Dell EMC in Zürich. "Ich lerne jeden Tag Neues, etwa über das Netzwerk von Dell EMC, gleichzeitig kann ich meine eigenen Erfahrungen und mein Wissen einbringen sowie mein Engagement unter Beweis stellen. ICT@migrants und dieses Praktikum haben mir sehr viel gebracht".
Praktikum für Unternehmen kostenlos
Die Unternehmen müssen den Praktikantinnen im Rahmen des Bildungsprogramms ICT@migrants keine Entschädigung bezahlen; einzig für die Unfallversicherung müssen sie sorgen. Damit will ICT@migrants die Schwelle für ein Engagement von Firmen möglichst tief halten. "Aber selbstverständlich begrüssen wir es, wenn Unternehmen, die von einer kurzen Einarbeitungszeit ausgehen, den Berufsfrauen nach den ersten Monaten einen Praktikumslohn bezahlen", erklärt Tedesco die Spielregeln. Werde ein Praktikum verlängert oder entstehe daraus sogar eine Festanstellung, werde zudem ein den Kompetenzen entsprechender branchenüblicher Lohn erwartet.
Unternehmen, die bei ICT@migrants mitmachen und einen Praktikumsplatz anbieten, werden für dieses Engagement vielfach entlöhnt, sagt Projektleiterin Giuliana Tedesco: "Die Frauen verfügen über viel Know-how, Lernbereitschaft und Motivation, zudem bringen sie Vielfalt und Energie in ein Unternehmen. Was ihnen fehlt, ist einzig und alleine eine Chance, dies alles unter Beweis zu stellen."
Modernes Recruiting für talentierte Fachkräfte
Auf eine solche Chance hofft die eingangs erwähnte Jane. Sie hat sich nun für das Real-Returns-Programm von Credit Suisse angemeldet. Damit bietet die Grossbank nach eigener Aussage "talentierten Fachkräften nach einer längeren freiwilligen Pause einen leichten Wiedereinstieg in die Arbeitswelt". Jane hat bereits die ersten zwei Hürden übersprungen: ein Videointerview mit einer Maschine und ein Vorstellungsgespräch mit einem HR-Verantwortlichen. Jane ist zuversichtlich, dass sie den Einstieg in den Schweizer Arbeitsmarkt schaffen wird. Im modernen Recruiting ist sie schon mal angekommen.
Der Autor
Romeo Regenass ist Leiter Kommunikation bei ECAP, einem gemeinnützigen und nicht gewinnorientierten Erwachsenenbildungsinstitut in der Schweiz.
www.ecap.chTagung zum Projekt Ict@migrants
Am 6. Dezember 2018 werden die Ergebnisse der ersten Staffel des Projektes an einer Tagung in Zürich präsentiert. Die Tagung thematisiert Chancen und Schwierigkeiten der beruflichen Integration qualifizierter Migrantinnen in der Schweiz. Zum Programm gehören Inputreferate, Erfahrungsberichte von Teilnehmerinnen und Mentoren sowie eine Podiumsdiskussion mit einer Branchenkennerin und Projektbeteiligten.
www.ict-migrants.ch Interessierte Unternehmen gesucht
Für die zweite Staffel von ICT@migrants, die im Frühling 2019 beginnt, sucht ECAP Firmen im Grossraum Zürich, die Praktikumsplätze anbieten können. Die Firmen müssen keine IT-Unternehmen sein, gibt es doch in fast jedem Unternehmen Arbeiten, die in den ICT-Bereich fallen. Auch Praktikumsplätze in anderen Bereichen sind gesucht. Interessierte Firmen finden auf www.ict-migrants.ch weitere Infos und eine Plattform mit Angaben zu allen Berufsfrauen, die einen Praktikumsplatz suchen. Zurzeit sind das allerdings nur noch wenige, die Teilnehmerinnen der zweiten Staffel werden erst im Spätfrühling 2019 aufgeschaltet.