Swiss IT Magazine: Inwieweit spielt künstliche Intelligenz rund um das Thema Archivierung heute schon eine Rolle? Michael Baeriswyl: Viele Firmen haben verstanden, dass sie mit digitalisierten Prozessen deutlich effizienter arbeiten. Sie scannen Dokumente und archivieren Arbeitsunterlagen elektronisch. Doch wer von der Digitalisierung wirklich profitieren will, geht noch einen Schritt weiter. Mit künstlicher Intelligenz kann ein Unternehmen viele zusätzliche Anwendungen nutzen, die enorm hilfreich sind. Dieses Verständnis wächst aber erst langsam. Bis AI fester Bestandteil von Archivierungslösungen ist, wird es noch eine Weile dauern.
Wo liegen denn die wesentlichen Vorteile von künstlicher Intelligenz rund um das Thema Archivierung?Im Gegensatz zu gewöhnlichen Suchmaschinen haben intelligente Systeme zwei grosse Vorteile: Erstens präsentieren sie am Ende einen Lösungsvorschlag statt nur ein Resultat. Und zweitens lernt das System selbständig aus den Erfahrungen und erledigt somit seine Aufgabe immer besser.
Gibt es bereits konkrete Anwendungsfälle, in denen AI bei Archivierungsaufgaben zum Einsatz kommt?
Künstliche Intelligenz wird heute oftmals im Bereich Datenmanagement eingesetzt: Jeden Tag entstehen bei einem Unternehmen so viele Daten, dass es den Mitarbeitern nicht mehr gelingt, diese sinnvoll auszuwerten. Systeme mit künstlicher Intelligenz unterstützen dabei, indem sie etwa Dokumente durchforsten und uns dann eine Lösung präsentieren. Dank AI versteht, interpretiert und verarbeitet der Computer selbständig Dateien. Er kann also beispielsweise gescannte Dokumente automatisch kategorisieren, ohne dass eine Person alle lesen und manuell einer Kategorie zuweisen muss. Nehmen wir als Beispiel ein Stadtarchiv. Dort sind unzählige Dokumente gelagert. Wenn sie erstmals eingescannt und elektronisch archiviert sind, findet man die gewünschte Urkunde viel einfacher. Doch die Suche scheitert oft bei allem, was nicht Text ist. Also bei Fotos, Plänen oder Illustrationen. Ausserdem sind die Verbindungen zwischen den einzelnen Dokumenten nur dann auffindbar, wenn sie beim Einscannen definiert wurden. Angenommen, ich möchte alles über die Familie Zurlinden im 18. Jahrhundert finden – die Suche wird mir wahrscheinlich nur einen Drittel der tatsächlich vorhandenen Dokumente liefern. Wenn wir aber künstliche Intelligenz verwenden, sieht die Sache anders aus. Denn die künstliche Intelligenz kann nicht nur Bilder zu erkennen, sondern auch verheiratete Zurlinden-Frauen finden, die den Namen gewechselt haben. Dank künstlicher Intelligenz ist das System fähig, Beziehungsgeflechte zu erkennen.
Welche Voraussetzungen seitens Infrastruktur müssen im Unternehmen gegeben sein, um bei der Archivierung AI einsetzen zu können?Eine sichere und stabile Infrastruktur ist stets die Voraussetzung für die erfolgreiche Integration von künstlicher Intelligenz. Doch wie viele Digitalisierungsthemen ist auch AI massgeblich von der Firmenkultur abhängig. Vor allem das Topmanagement muss verstehen, was künstliche Intelligenz ist, wo sie sinnvoll eingesetzt werden kann und wo nicht. Hier geht es einerseits um realistische Erwartungen, aber auch darum, den Tunnelblick abzulegen und neue Geschäftsmodelle zu erkennen. Doch ohne die richtigen Leute im Hintergrund kommt künstliche Intelligenz nicht weit. Das bedeutet nicht, dass jedes KMU eine eigene AI-Abteilung aufbauen sollte, aber die Zusammenarbeit mit dem richtigen Partner ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Eine gute AI-Abteilung besteht meiner Meinung nach aus Experten mit ganz unterschiedlichen Fertigkeiten: Data Scientists, Entwicklern, System Engineers und vor allem Leute, die das Kundenproblem verstehen. Denn häufig zeigt sich bald, dass AI nicht nur für Archivierungslösungen sinnvoll ist, sondern auch im Kundendienst, bei HR oder im Marketing.
Gibt es Inhalte oder Dokumententypen, für die sich AI besonders anbietet, und gibt es Inhalte, wo AI (noch) kein Thema sein kann?Der Vorteil von künstlicher Intelligenz ist, dass sie selbst unstrukturierte Dateien durchforsten kann. Sie ist nicht nur auf Texte beschränkt, sondern analysiert auch Bilder oder Videos oder Sprachdateien. Die Grenzen von AI liegen vor allem bei unserer eigenen Vorstellungskraft. Bei der Analyse von Texten ist künstliche Intelligenz recht weit fortgeschritten. Auch in Sachen Bilderkennung gibt es grosse Fortschritte. Es existieren bereits Dienste, die nicht nur nach Metadaten suchen, sondern verstehen was beispielsweise ein Labrador ist. Egal ob braun, schwarz oder weiss, sitzend, stehend oder liegend, Welpe oder Senior – die künstliche Intelligenz hat gelernt, was einen Labrador ausmacht und kann ihn unter Milliarden Fotos identifizieren. Ich bin sicher, dass wir in diesem Bereich in den kommenden Jahren noch grosse Fortschritte sehen werden. Auch im Bereich Stimmerkennung wird zurzeit viel entwickelt. Stimmen können beispielsweise bei der Authentifizierung von Personen eine wichtige Rolle spielen. Nehmen wir an, ich habe mein Passwort vergessen und rufe den Kundendienst an: Statt dass ich unzählige Fragen beantworten muss, könnte mein Stimmabdruck zur Identifizierung verwendet werden – der übrigens so individuell ist wie mein Fingerabdruck.
Denken Sie, dass in absehbarer Zeit Lösungen mit künstlicher Intelligenz ab der Stange erhältlich sein werden, die lokal im Unternehmen auf Storage-Systemen aufgespielt und betrieben werden können? Oder wie kommen diese Systeme in die Unternehmen?
Es gibt bereits viele Algorithmen, die öffentlich zugänglich sind. Insbesondere die grossen Anbieter sind hier führend. Das ist gerade für Firmen mit kleinerem ICT-Budget eine gute Nachricht. Sie können AI-Lösungen relativ einfach und günstig in ihre Infrastruktur integrieren. Zumindest theoretisch. Die Praxis sieht ein wenig anders aus: Damit AI wirklich einen Nutzen bringt, braucht man viele Daten, um das System zu trainieren. Wenn eine AI-Anwendung aber nur Englisch versteht, ist sie beispielsweise für eine Schweizer Brauerei nur schlecht brauchbar. Die Kunden sprechen Schweizerdeutsch, Deutsch, Französisch und Italienisch und somit sind das die Sprachen, die AI kennen sollte. Natürlich ist auch der Kontext entscheidend: Angenommen, ein Bier trägt den Namen «Sahara», dann möchte das Unternehmen natürlich Informationen zum Getränk und nicht zur Wüste haben. Ausserdem entstehen immer wieder neue Produkte – hier muss man die künstliche Intelligenz wiederum trainieren. Kurz: Auch wenn es gewisse Lösungen ab der Stange schon gibt und in Zukunft noch viel mehr geben wird, sind sie nicht immer die beste Wahl.
Aber letztlich sprechen wir bei AI im Zusammenhang mit Archivierung im Moment schon noch von einem Thema ausschliesslich für grössere Unternehmen?
Natürlich ist künstliche Intelligenz auch für kleinere Firmen hilfreich. Nehmen wir beispielsweise eine Anwaltskanzlei: Der Computer kategorisiert Verträge automatisch – nach Fall, Mandant, Strafbestand oder Anwalt – was immer erforderlich ist. Mit einem Befehl werden Schnittstellen sichtbar, ein anderer Befehl und schon werden Abhängigkeiten erkennbar. Oder denken wir an die Anonymisierung von Daten: Gewisse Informationen wie etwa Kundenfeedback geben einem Unternehmen wichtige Hinweise auf Verbesserungen. Doch nicht alle Daten dürfen in dieser Form weiterverwendet werden. Mithilfe der künstlichen Intelligenz werden Namen, Adressen oder Telefonnummern automatisch anonymisiert, ohne dass ein Mitarbeitender wochenlang den Schwarzstift bemühen muss.
Inwieweit spielt der Faktor Mensch – etwa zu Kontrollzwecken – auch bei Archivierungslösungen mit künstlicher Intelligenz noch eine Rolle?
Das System macht natürlich hin und wieder Fehler – vor allem am Anfang. Genau da kommen wir Menschen ins Spiel. Künstliche Intelligenz ist nur so gut, wie sie trainiert wird. Diese Aufgabe liegt bei uns. Ein Beispiel: Viele AI-Anwendungen stammen aus den USA und wurden für diesen Markt konzipiert. Sie verstehen weder die Schweizer Kultur noch unsere Sprache. Doch genau diese kontextuellen Faktoren sind zentral. Nehmen wir nochmals das Beispiel der Stadtbibliothek: Wenn die künstliche Intelligenz den Herrn auf dem Foto als Hans Zurlinden erkennt, es in Wahrheit aber sein Bruder Otto ist, dann muss das ein Mensch richtigstellen. Der Computer lernt dazu und beim nächsten Mal wird er den Fehler wahrscheinlich nicht mehr wiederholen. Ausser natürlich, Otto und Hans sind eineiige Zwillinge – dann wird die Sache zugegebenermassen schwierig.
Wie gross sind die Vorbehalte seitens der Unternehmen, wenn Sie Ihnen eine Lösung präsentieren, die AI im Zentrum hat? Was sind die Bedenken?
Sicherlich sind der Datenschutz und die Sicherheit ein grosses Thema. Das ist absolut verständlich. Deswegen ist für uns eine sichere Infrastruktur auch das Wichtigste. Gewisse Unternehmen wie zum Beispiel Banken bevorzugen eine Inhouse-Lösung, damit AI-Anwendungen auf ihren eigenen Servern laufen. Unsere Infrastruktur ist so gebaut, dass wir in der Lage sind, auf die verschiedenen Bedürfnisse zu reagieren – wir können also sowohl AI auf den Systemen unserer Kunden als auch über unsere eigenen laufen lassen. Ausserdem habe ich festgestellt, dass manche Kunden zögern, mit Start-ups zusammenzuarbeiten. Wie sicher sind sie? Sind sie in zwei Jahren noch auch dem Markt oder werden sie aufgekauft? Haben sie ausreichende Rechenleistung? Diese Fragen beschäftigen die Kunden und sind oft ausschlaggebend in der Wahl ihres AI-Partners.
(mw)