Im europäischen Vergleich zählt die Schweiz in Sachen Internetnutzung zu den innovativsten und fortschrittlichsten Ländern. Dies gilt sowohl für das private wie auch für das Unternehmensumfeld. Laut einer Studie der Universität St. Gallen legte allein der Online-Handel zwischen 2008 und 2010 um 48 Prozent zu; im vergangenen Jahr wurden damit beachtliche 8,7 Milliarden Franken erwirtschaftet.
Was die Internetanschlussquote in den privaten Haushalten von 85 Prozent betrifft, nimmt die Schweiz zudem einen Spitzenplatz ein, gleich hinter den skandinavischen Ländern, aber noch vor sämtlichen umliegenden Nachbarländern oder dem United Kingdom (UK), wie eine aktuelle Studie des Bundesamtes für Statistik (BfS) zeigt. Auch die Breitbandversorgungsquote der Schweiz von 77 Prozent liegt deutlich über dem europäischen Mittel, das vom BfS mit 61 Prozent beziffert wird.
Wie eine nicht-repräsentative Umfrage bei diversen Schweizer Webagenturen zeigt, wird der technologische Stand der Schweizer Unternehmen in Sachen Internetnutzung im europäischen Vergleich als durchaus positiv bewertet. «Die Schweiz befindet sich im oberen Mittelfeld», urteilt etwa Stephan Handschin, CEO der Webagentur
Unic. Einzig Skandinavien wie auch das UK hätten hier noch einen Vorsprung.
Auch Markus Schärer, New Business Director bei Assai Dialog + Digital, teilt zwar grundsätzlich diese Meinung, konstatiert aber auch einen «Rückstand auf vielen Ebenen», wenn es um Innovation, Mut und Kreativität geht. Schärer macht zudem eine Beratungsresistenz dafür verantwortlich, dass sich kaum Projekte realisieren lassen, die im internationalen Vergleich standhalten.
Was den Innovationsgrad betrifft, lässt sich keine Korrelation zur Unternehmensgrösse feststellen, dieser Meinung ist jedenfalls Unic-Chef Handschin. Grosse Unternehmen verfügten zwar einerseits über «hohe IT-Budgets und teilweise riesige IT-Abteilungen», doch seien mittelständische Firmen anderseits oftmals «schneller und flexibler bei der Ablösung bestehender Systeme».
Jürg Stuker, CEO von Namics, ist überzeugt, dass sich Innovation nicht in der Technologie, sondern vielmehr in der «Kommunikation mit den Usern» abspiele. Mit dem Kulturwandel, der sich durch den Trend in Richtung «dialogorientierte Anwendungen» abzeichne, falle es «kleineren, agileren Firmen einfacher, sich anzupassen». Und weiter: «Gleichzeitig gibt es sehr grosse Firmen wie beispielsweise die Migros, welche das Terrain sehr geschickt betreten haben. Grösse spielt eine Rolle, lässt sich aber kompensieren.»
Entwicklung in den Branchen
Anders sieht die Entwicklung in den verschiedenen Branchen aus. Florian Wieser, Partner und Online-Stratege bei
Coundco, bescheinigt jenen Branchen einen hohen Innovationsgrad, die bereits in irgendeiner Form mit Technologie in Verbindung stehen und nennt konkret die Telekommunikations- und die Autoindustrie, aber auch Plattform-Betreiber für Immobilien, Jobs oder Autos sowie die Verlagshäuser. Aufholbedarf stellt er hingegen im Food-, Gastronomie- und Hotelleriebereich fest.
Stefan-Essi Fischer, CEO von
1eEurope Schweiz, macht insbesondere im Finanz- und Pharmaumfeld viele Early Adopters aus. Dagegen konstatiert er in der Industrie «grossen Aufholbedarf in Sachen Technologieeinsatz».
Markus Schärer von Assai Dialog + Digital bemerkt allerdings mit Recht, dass sich in jeder Branche Innovationstreiber und Innovationverhinderer finden liessen, stellt aber ebenfalls insbesondere der Migros ein gutes Zeugnis aus: «Den grössten Sprung haben jedoch sicherlich die Grossverteiler gemacht. Allen voran die Migros, welche in den vergangenen Monaten betreffend der Nutzung des Online-Kanals neue Massstäbe zu setzen vermochte.» Unter dem Strich hält Schärer fest: «Innovation hängt in erster Linie von kurzen Entscheidungswegen und mutigen Budgetverantwortlichen ab.»
Krise? Welche Krise?
Die Wirtschaftskrise der vergangenen zwei Jahre scheint auf die Geschäftsgänge der Schweizer Webagenturen keinen grossen Einfluss ausgeübt zu haben. So hat etwa die Webagentur
Unic die Krise «nur marginal» zu spüren bekommen, wie CEO Stephan Handschin gegenüber «Swiss IT Magazine» erklärt. Kleinere Budgets, beispielsweise im Industriesektor, hätten durch höhere Umsätze im Bereich B2C-E-Commerce «mehr als kompensiert» werden können. Auch 1eEurope-CEO Fischer beteuert, dass sich die Krise auf die Geschäftsgänge nicht negativ ausgewirkt hat. Ähnlich Florian Wieser von
Coundco: «Die Auftragseingänge haben sich nicht geändert, aber die Länge der Entscheidungszeit bis zur Auftragserteilung.» Angesichts der guten Auftragslage erstaunt es denn auch nicht weiter, dass Web-Technologen und -Entwickler hierzulande langsam aber sicher Mangelware werden. Dies bestätigt auch Stephan Handschin: Man suche zwar «explizit in der Schweiz», doch sei es «nicht einfach, alle Stellen mit Schweizer Bewerbern zu besetzen». Noch gravierender sieht Markus Schärer die Situation: «Den Schweizer Markt darf man augenblicklich getrost als ausgetrocknet bezeichnen. Es fällt sehr schwer, erfahrene und etablierte Spezialisten zu rekrutieren.» Auch Florian Wieser bestätigt übereinstimmend, der Markt im Bereich Web-Entwickler sei hierzulande «spürbar ausgetrocknet».
Bei
1eEurope begegnet man dem Fachkräftemangel mit einer zweigleisigen Strategie: Hier setzt man einerseits auf «kundennahe, qualifizierte Schweizer Vorort-Mitarbeiter», bei der Software-Erstellung, andererseits auf die Near- und Offshore-Entwicklung.
Die Rekrutierung von Web-Technologen aus dem nahen Ausland ist für viele Web-Unternehmen denn auch die einzige Möglichkeit, um den Personalbedarf zu decken. Mittelfristig führt allerdings kaum ein Weg an der gezielten Förderung von Ausbildungsplätzen vorbei. Stephan Handschin zeigt sich denn auch überzeugt, dass die Investition in «eine attraktive und qualitativ hochstehende Ausbildung für den IT-Markt Schweiz essentiell» sei.
Mobile ist Trumpf
Auf die Frage, in welche Web-Technologien gegenwärtig mehr investiert wird als in früheren Jahren, zeigt sich ein gemischtes Bild, wobei allerdings ein Bereich immer wieder genannt wurde: Das Mobile Internet steht zweifellos bei unzähligen Unternehmen weit oben auf der Agenda.
Ob die App-Entwicklung für iOS, Android und Konsorten allerdings immer der passende Weg ist, scheint noch nicht entschieden: Namics-CEO Jürg Stuker wirft mit Recht ein, der genutzte Kanal an sich sei «kaum wichtig», entscheidend sei das Angebot für den Kunden. Und weiter: «Eine gut gemachte Website, die plattform- und geräteunabhängig funktioniert, dürfte häufig der bessere Weg sein.» Ähnlich urteilt auch Florian Wieser von
Coundco: Ob Apps oder mobile Websites die Lösung seien, müsse sich erst noch zeigen.
Zu den Bereichen, in die zur Zeit besonders viel investiert wird, zählen gemäss unserer Befragung ausserdem Cloud-Lösungen, die Anbindung der sozialen Netzwerke an CRM- und andere Business-Systeme, Collaboration-Projekte sowie die RIA- und Front-end-Entwicklung, sei es mit HTML5, Adobes Flash oder Microsofts Silverlight.
Markus Schärer von Assai Dialog + Digital schätzt, dass sich künftig eine Koexistenz zwischen HTML5 und Flash abspielen wird, während er die Rolle von Silverlight für vernachlässigbar hält. Anders Namics-Mann Stuker, der überzeugt ist, dass HTML5 «im Bezug auf Webanwendungen inklusive Mobile ganz klar Priorität» habe, während sich Flash und Silverlight künftig «in der Nische stark funktional geprägter Anwendungen» wieder finden würden, nicht jedoch im Mainstream.
Von einer Koexistenz «für mindestens fünf Jahre» geht man hingegen bei
1eEurope aus; wobei man Silverlight für Applikationen mit Integrationsbedarf klar favorisiere.
Videos an allen Fronten
Ein weiteres Merkmal, das in den letzten Jahren bei unzähligen Webauftritten zum unverzichtbaren Bestandteil geworden ist, sind Web-Videos. 1eEurope-Chef Fischer ist sich sicher: «Dies ist wohl nur der Anfang». Auch Canon-Schweiz-CEO Markus Naegeli lässt kaum Zweifel offen: «Ich bin überzeugt, dass Web-TV nicht nur ein vorübergehender Trend ist, sondern, dass künftig Web-Videos noch viel häufiger als Kommunikationsinstrument eingesetzt werden.»
Demgegenüber relativiert Unic-Chef Handschin: «Videos sind nicht in jedem Fall das richtige Kommunikationsmittel, können jedoch ein wertvoller Zusatz sein.» Auch Markus Schärer räumt ein: «Grundsätzlich sollte man den Einsatz von Web-Videos sehr gut überlegen.» Video würden nicht dem Nutzerverhalten des Internet-Users entsprechen, da Video einer Zeitachse folge, die sich nur bedingt beeinflussen lasse.
Canon-Mann Naegeli sieht die Rolle der Schweiz bei der Web-Video-Nutzung «europaweit gesehen im oberen Mittelfeld» und prophezeit der Kommunikationsform eine grandiose Zukunft. Eine Vielzahl qualifizierter Anbieter im Web-TV-Bereich – zusammen mit der hohen Internetdichte – würden durchaus die Möglichkeit bieten, dass «die Schweiz zum Vorreiter im Bereich Web-Videos avancieren kann».
(mw)
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