Editorial

Netz-Jubiläen: Kein Grund zum Feiern


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2008/09

     

Ende April feierte ein Eckpfeiler der Informationsgesellschaft angeblich einen runden Geburtstag: Das World Wide Web, so war allerorten zu lesen, wurde 15. Tatsächlich? Tatsächlich wurde am 30. April 1993 vom Genfer CERN die libwww zur öffentlichen Benutzung freigegeben. Ob dies wirklich die Geburtsstunde des WWW war, wie sie die deutsche Bitkom feierte, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, schliesslich startete das Projekt bereits 1989, die ersten Server, Browser und Websites erschienen 1990 und 1993 waren bereits eine ganze Menge Leute auf den existierenden 200 Webservern unterwegs.



Nichtsdestotrotz hat der Termin eine gewisse Bedeutung, war er doch der eigentliche Startschuss zum Web, wie wir es heute kennen. Das wahre Ausmass und das gewaltige Potential des World Wide Web konnten sich 1993 wohl weder sein Entwickler Tim Berners-Lee noch das CERN wirklich vorstellen. Und noch zwei Jahre später hatte Microsoft-Chef Bill Gates damit seine liebe Mühe: «Das Internet ist nur ein Hype!», liess er noch 1995 verlauten. Diese fatale Fehleinschätzung wurde zwar flugs korrigiert, davon erholt hat sich der ewige Zweite im Internet-Business aber trotz Browser-War und unzähligen investierten Milliarden bis heute nicht, wie der Machtkampf mit Google und die gescheiterte Yahoo-Übernahme jüngst einmal mehr gezeigt haben.




Als 1999 ein Ex-Tennis-Profi in einem AOL-Werbespot «Bin ich schon drin?» fragte und damit nicht die Besenkammer meinte, war dies nur ein weiterer Schritt des WWW auf seinem unglaublichen Siegeszug zum Massenmedium. Mittlerweile tummeln sich über 1,3 Milliarden Menschen im Internet. Handel, Arbeit und Freizeit sind ohne Netz kaum mehr vorstellbar, und die nachrückende Generation dürfte sich bei mancherlei Tätigkeiten bereits fragen, wie man das eigentlich «früher» gemacht hat. Herzliche Gratulation darum zu dieser bahnbrechenden Entwicklung, ob sie sich nun jährt oder nicht.



Gemessen an seinen Folgen kaum weniger bedeutend ist allerdings ein anderes, echtes Jubiläum dieser Tage: Als am 3. Mai 1978 Gary Thuerk, ein ideenreicher Verkäufer des Computer-Herstellers DEC, eine Einladung zu einer Verkaufspräsentation per Mail verschickte, war er sich der Geister, die er rief, wohl kaum bewusst. Mit 600 Adressen hat er rund ein Viertel aller damaligen Internet-Anwender angeschrieben, 320 Empfänger wurden erreicht (mehr konnte das Mail-System nicht verarbeiten). Und das Geschäft hat sich gelohnt, Thuerk verkaufte im Anschluss an die Präsentation Systeme für 12 Millionen Dollar. Thuerks Mail-Aktion ging als erste Spam-Mail in die Geschichte ein, auch wenn Spam diesen Namen erst 1993 erhielt. Und seinen sagenhaften Erfolg versuchen seither unzählige Spammer zu wiederholen – so penetrant, dass zeitweise rund 99 Prozent aller Mails im Internet aus unerwünschten Werbebotschaften bestehen, und gleichzeitig so erfolgreich, dass die Umsätze aus dem Spam-Business sogar diejenigen des Drogenhandels übertrumpfen.



30 Jahre Spam sind an sich kein Grund zum Feiern. Wirklich bedenklich ist aber, dass auch 30 Jahre nach der ersten Spam-Mail noch kein Kraut gegen das Ärgernis gewachsen ist. Technische Ansätze gibt es zwar viele, vom simplen Wort-Filter über Blacklists mit bekannten Spam-Servern bis zur ausgeklügelten, mehrstufigen Anti-Spam-Appliance mit menschlichem Operator. Betrieben wird aber doch hauptsächlich Symptombekämpfung. Die Wurzel des Übels wird durch die vielfältigen Massnahmen bisher kaum tangiert. Und das ist nicht nur ein schlechter Leistungsausweis für die IT, sondern auch kein Ruhmesblatt für die Informationsgesellschaft, von der die Spammer letztlich leben.




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