Das soziale Netz im Web-2.0-Zeitalter
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/13
Laut Wikipedia hat sich der Begriff «Social Software», der eng mit dem Web 2.0 verknüpft ist, um 2002 etabliert, und zwar als Umschreibung für Softwaresysteme, welche die menschliche Kommunikation, Interaktion und Zusammenarbeit unterstützen. Diesen Systemen ist demnach gemein, dass sie Aufbau und Pflege von Communities und sozialen Netzwerken unterstützen und weitgehend mittels Selbstorganisation funktionieren.
Doch eigentlich ist Social Software ein alter Hut. Was heute dank Blogs, Wikis und Communities wie Myspace, OpenBC, Flickr und del.icio.us zu einem riesigen Hype angewachsen ist, hat seine Ursprünge in den ersten BBS-Systemen und im Usenet, das bereits 1979 im universitären Umfeld entstand. Bereits diese frühen Formen beinhalteten die wesentlichen Merkmale sozialer Software und Communities: Öffentliche Kommunikation über Foren, private Kommunikation mittels persönlicher Nachrichten und die Selbstorganisation, damals noch per Netiquette und Moderation. Viel Lärm um Nichts also?
Ganz so einfach verhält es sich denn doch nicht. Ein durchschlagender Erfolg ist nämlich erst den heutigen Anwendungen beschieden, die auf dem Webbrowser als Benutzeroberfläche basieren und einfach zu bedienen sind.
Dies ist die vorläufige Kulmination einer langen Entwicklung. Die ersten Webangebote waren nämlich statische Webseiten von Firmen und Privatanwendern, die sich an eine Vielzahl von potentiellen Besuchern richteten (One-to-many-Kommunikation). Das Internet wurde als Mittel gesehen, die klassischen Inhaltsangebote wie Daten und Medien auf eine neue Weise zu publizieren. Eine Mitwirkung des Konsumenten war weder vorgesehen noch möglich.
Die aktuellen Anwendungen sozialer Software dagegen nutzen das Web für die Many-to-many-Kommunikation – jeder kann mitmachen, ohne dass grosse Barrieren zu überwinden wären. Private Daten werden im Internet gespeichert, Suchmaschinen greifen vermehrt auf Daten im eigenen PC zu, lokale Programme aktualisieren sich selbständig über das Internet, Webdienste können über offene Programmierschnittstellen fast beliebig neu kombiniert werden, der Leser wird zum Autoren und der Autor zum Leser – kurz, das Netz und der Privatrechner, Anbieter und Konsument verschmelzen.
Ausschlaggebend für diese Entwicklung von sozialer Software und Web 2.0 zum Massenphänomen sind die zunehmende Verbreitung von PCs und Breitband-Anschlüssen mit Flatrate auch in Privathaushalten, die simple Nutzung der Dienste ohne besondere Computer- oder Programmierkenntnisse und nicht zuletzt die zunehmende Überforderung mit der Informationsflut.
Was auf den ersten Blick wie ein Paradoxon aussieht, ist tatsächlich so, wie zahlreiche Blogger, RSS-Abonnenten und Medienwissenschaftler gerne bestätigen. Zwar wird durch das Abonnement von Feeds und die Lektüre von Blogs die zu verarbeitende Datenmenge offensichtlich zunächst grösser – die Software aber hilft, diese automatisch zu sortieren und die Informationsflut im Griff zu behalten. Wer sich die ihn interessierenden Blogs und Feeds erstmal ausgesucht hat, braucht im RSS-Reader nur noch die interessantesten Info-Häppchen auszusuchen – statt sich im Webbrowser von Site zu Site zu hangeln und jede zu scannen (siehe Artikel auf den Seiten 36 und 39).
Web 2.0 und insbesondere soziale Software sind aber weit mehr als «bloss» Blogs und RSS-Feeds. Ein wesentliches Merkmal sozialer Software ist die Bildung von Communities, virtuellen Gemeinschaften also, die sich über gemeinsame Bekannte, geteilte Interessen und Hobbies oder andere persönliche «Überschneidungen» wie Wohnorte oder Ethnien definieren.
Networing-Communities (Auswahl), Social Software (Auswahl)
Die weltweit grösste dieser Communities heisst Myspace.com – sie verfügt nach aktuellen Schätzungen über rund 70 Millionen Anwender und gehört seit der Übernahme im Sommer 2005 zu Rupert Murdochs News Corporation. Myspace.com erlaubt dem Nutzer, eine einfache Homepage mit seinem Profil ins Netz zu stellen. Bilder, Blog-Einträge, Texte mit beliebigem Umfang und andere Informationen wie beispielsweise besuchte Schulen, aktueller Arbeitsort oder persönliche Interessen können dabei geschützt werden, das heisst der Nutzer entscheidet, was er wem zeigen respektive zugänglich machen will. Gibt man sich zu zugeknöpft, läuft dies allerdings dem Zweck der Community zuwider – denn der heisst ganz einfach, alte Freunde wieder finden und neue Freunde gewinnen. Dafür bietet die Anwendung verschiedene Such- und Browse-Funktionen sowie die Möglichkeit, andere Anwender einer Freundesliste hinzuzufügen. So lässt sich relativ problemlos ein Netzwerk mit Freunden aufbauen. Genutzt wird Myspace.com allerdings vorwiegend von amerikanischen Teenagern zur Selbstdarstellung.
Mittlerweile gibt es eine Menge derartiger Communities. Die Bloggerin Judith Meskill zählte 2005 in ihrer Liste, der Social Networking Services Meta List, über
380 davon – vom klassischen Dating-Netzwerk über Communities für Haustierhalter bis hin zu Business-Diensten. Viele allerdings widmen sich einem speziellen Hobby – und transportieren damit die herkömmliche Newsgroup
im Usenet auf eine neue, modernere Plattform. Die meisten Communities sind ausserdem bloss im amerikanischen Raum relevant
oder gar auf einzelne Städte und Landstriche beschränkt. Mehr als nur eine Handvoll Schweizer oder zumindest deutschsprachiger Nutzer können nur die grössten Anbieter - Myspace.com, Orkut und Friendster - bieten.
Ganz anders und vor allem mit hauptsächlich deutschsprachigen Mitgliedern präsentiert sich OpenBC (Open Business Club), bei dem schon aus dem Namen hervorgeht, wer die Zielgruppe ist: Business-Anwender, die ihr meist mühsam aufgebautes Netzwerk auch virtuell pflegen und vor allem erweitern wollen. So eignet sich OpenBC etwa bestens, um bestimmte Personen für ein spezielles Projekt aufzutreiben: Über die ausgereiften Suchfunktionen findet man passende Kontakte, für die dann detailliert angezeigt wird, in welchem Grad und über welche gemeinsamen Freunde respektive Freunde von Freunden man untereinander bekannt ist.
Daneben bietet OpenBC Diskussionsforen und Gruppen, in denen man sich über Business-relevante und andere Themen unterhalten kann, sowie die Möglichkeit, online Termine zu vereinbaren und zu verwalten.
Ein wesentliches Merkmal vieler sozialer Web-2.0-Anwendungen kommt in den Social-Networking-Plattformen allerdings nicht vor: die Tags (dt. Etiketten). Dabei handelt es sich um die Verschlagwortung einer Information mit freien Begriffen – es gibt kein starres Kategoriensystem, die Informationen können beliebig klassifiziert werden.
Auf ein derartiges System setzen beispielsweise Flickr und Youtube. Während ersteres die Speicherung und das Tagging von Fotos erlaubt, ermöglicht Youtube dasselbe mit Videos. Beide Dienste können ihren Erfolg wohl der Tagging-Idee zuschreiben – öffentliche Fotoalben gibt es wahrlich genug, aber keines kann an den Erfolg von Flickr auch nur anknüpfen.
Der Clou am Tagging-System liegt darin, dass nicht nur der Besitzer eines Fotos oder einer anderen Information diese etikettieren kann, sondern jedermann. Auf diese Weise ergibt sich im Nu eine grosse Zahl von Begriffen, die dem Besitzer nie in den Sinn gekommen wären, die aber beispielsweise eine präzise Suche ermöglichen. Ausserdem lassen sich auch die Tags selber wieder ordnen und gewichten: In sogenannten Tag-Clouds (Tag-Wolken) werden Begriffe umso grösser angezeigt, je häufiger sie als Tag benutzt werden.
Das Tag-System ist auch die Basis für das Social Bookmarking, wie es unter anderem del.icio.us oder Blinklist betreiben. Hier hat der Anwender die Möglichkeit, interessante Fundstücke von seinen Surftouren abzulegen, zu kommentieren und zu verschlagworten. Auf diese Weise entstehen wiederum Communities – man kann gezielt nach Tags suchen und stösst so auf Surfer mit ähnlichen Interessen, deren Linklisten interessante Wegweiser durchs Netz sein können.
So spannende Möglichkeiten die neuen sozialen Dienste im Web eröffnen, so bergen sie doch auch einige Gefahren. So sollte man etwa vorsichtig auswählen, welche Daten man im Web tatsächlich öffentlich machen will. In den USA ist es bereits gang und gäbe, in Communities nach den Daten von Stellensuchenden zu forschen – wer sich da jemals mit negativen Eigenschaften präsentiert hat, und sei’s nur im Scherz, kann sich die Hoffnungen auf die Stelle wohl abschminken.
Als Ende der Neunzigerjahre die Dot.com-Blase platzte und die New Economy am Ende war, gab es Stimmen die behaupteten, rund um das Internet sei schon alles erfunden worden. Die Entwicklung um das Web 2.0 bezeugt hier die Selbstheilungskräfte des Internet – und wird von vielen bereits als nächster grosser Hype gesehen, der unweigerlich wieder scheitern muss.
Ob die Warner recht behalten, wird sich zeigen. Einige Tendenzen stimmen zumindest nachdenklich – wer soll noch Blogs lesen, wenn jeder bloggt? Braucht die Welt tatsächlich die unzähligen belanglosen Webtagebücher, die zahllosen grottenschlechten Fotos, Videos und Podcasts, die sich plötzlich jeder zu veröffentlichen bemüssigt fühlt? Steigt durch die Social Communities nicht einfach nur die Quantität der Kontakte, während deren Qualität durch den Wegfall der persönlichen, direkten Ebene eher abnimmt? Und sind die aufstrebenden Web-2.0-Companies die Unsummen, die Internetgrössen wie Yahoo (geschätzte 40 Millionen Dollar für Flickr und rund 30 Millionen Dollar für del.icio.us) oder Rupert Murdochs News Corporation (580 Millionen Dollar für Myspace.com) für die Übernahme bezahlten, tatsächlich wert?
Und kann man vor diesem Hintergrund tatsächlich eine Prognose im Hinblick auf das Web 3.0 abgeben? Kann man nicht. Das Internet wird sich still und kontinuierlich weiterentwickeln – und irgendwann folgen die nächste Überraschung und der nächste Hype.
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