Die Ära MX ist angebrochen
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/17
"Wir haben verstanden". Das war vor einigen Jahren der Werbeslogan eines Autoherstellers - ich glaube, es war Opel oder so (das Beispiel zeigt: Ein guter Slogan macht noch lange kein gutes Branding). Verstanden hat offensichtlich auch die Firma Macromedia, die seit den Chicagoer Zeiten Anfang der Neunziger Jahre (da gab es eine kleine Bude namens Macromind, gegründet von einem Opernsänger namens Marc Canter, die ein Mac-Animationstool namens Videoworks entwickelt hatte) eine beeindruckende Entwicklung zum bestbekannten Hersteller von Web-Entwicklungstools durchgemacht hat.
Wie bei der Ankündigung der neuen Flash-Version MX schon prophezeit, folgen diesen Sommer neue Ausgaben sämtlicher Macromedia-Webtools von Fireworks bis Cold Fusion, die ebenfalls unter der MX-Flagge segeln. MX, so der Hersteller, steht dabei für "Macromedia Experience". Abgesehen davon, dass auch ein nicht unbekannter Hersteller von Betriebssystemen mit der besonderen "Experience" wirbt, die der Anwender seiner Produkte erfahren darf, macht das Ganze durchaus Sinn: Die Non-Macromedia-Experience, die dem Web-Designer und -Entwickler bis dato zuteil wurde, wenn er Entwicklungswerkzeuge unterschiedlicher Provenienz zu einem brauchbaren Werkzeugkasten zusammenstellte, war nämlich nicht immer die der puren Freude - insbesondere, wenn es um mehr ging als um die blosse Komposition simpler HTML-Seiten mit statischem Inhalt. Mit den MX-Tools will Macromedia nun der Webworker-Gemeinde eine integrierte Palette von Werkzeugen anbieten, die von der Kreation der Grafik bis zur Programmierung der applikatorischen Funktionalität alle Bereiche sowohl des Webdesigns als auch der Webentwicklung abdeckt.
Dass sich heute kaum eine Website mehr aus fix vorgegebenen Seiteninhalten zusammensetzt, dürfte nicht nur in Fachkreisen bekannt sein. Dennoch kümmern sich die meisten Web-Tools praktisch ausschliesslich genau darum. Nicht vergebens sprechen viele nach wie vor vom "HTML-Editor", wenn sie das Gestaltungsprogramm für Webseiten meinen. Und auch kein Wunder, dass angesichts der laschen Unterstützung für dynamische Inhalte im visuellen Editor die meisten Profis zu Texeditor und Handcoding greifen, wenn es um Datenbankanbindungen und Interaktivität geht. Das ist etwa so, als würde man Facts mit Holzlettern und Focus mit Kartoffelstempeln statt mit QuarkXPress oder InDesign layouten.
Die neue Dreamweaver-Ausgabe, bitfrisch als Betaversion angetestet und hier als MX-Beispiel genommen, fasst die früheren Produkte Dreamweaver und Ultradev zusammen - kein
Dreamweaver mehr ohne integrierte Entwicklungstools für alle Arten von Webpage-Scripting und Server-Technologie: Bereits bei der Installation fragt die Software, für welche Dokumententypen sie denn nun als Standard-Editor zum Einsatz gelangen soll. Zur Wahl stehen HTML, ASP, ASP.NET, JSP, CFM, CSS und XML. Mit anderen Worten: Man ist für so ungefähr alles gerüstet, was einem je über den Weg laufen könnte.
Beispielhaft auch die Oberfläche: Der User hat die Wahl zwischen dem bisherigen, auch in meinen eigenen Testberichten immer wieder als umständlich bemängelten Interface mit Floating-Paletten und dem neuen, monolithischen und praktischen Erscheinungsbild, wie wir es von Flash MX schon kennen. Auch eine spezielle Paletten-Kombo für den Hardcore-Coder ist vorgesehen. Weitere Details folgen demnächst im obligaten InfoWeek-Testbericht.
Neben dem Seiteneditor bringt Macromedia auch neue Versionen des Webgrafik-Tools Fireworks und der Webapplikationsentwicklungsumgebung ColdFusion samt Serverseite. Dabei ist besonders interessant, dass ColdFusion MX nun technisch auf der Java-2-Architektur basiert (im Hintergrund arbeitet entweder der hauseigene J2EE-Server JRun oder ein beliebiger Java-2-Server), dem Entwickler aber nach wie vor das anschauliche Programmiermodell von ColdFusion bietet.
Ausser Adobe, die mit der Integration von GoLive, Photoshop und LiveMotion punkto Scriptability und Benutzeroberfläche wenigstens auf der Kreativseite die verschiedenen Tools unter einen Hut gebracht hat, gibt es keinen weiteren Hersteller, der nicht einfach Webtool-Monolithen in die Landschaft stellt. Und bei Adobe fehlt die Serverseite - kein Application Server aus gleichem Hause; dafür beschreitet man mit Exotika wie Atmosphere bisweilen arg verschlungene Pfade im Tool-Dschungel. Man muss schon sagen: Mit der Akquisition von Allaire hat Macromedia den weiteren Weg verdammt geschickt eingefädelt.