Siemens bot in den letzten Monaten ein Beispiel, wie eine Firma, die zu den Weltbesten im Prozessmanagement zählt, trotzdem die Kontrolle über ihre Prozesse in wichtigen Bereichen verlieren kann. Geschäftsprozesse schaffen nicht zwangsläufig höhere Effizienz, mehr Compliance und bessere Kontrolle. Es gibt zahllose Beispiele von gescheitertem oder nutzlosem Prozessmanagement. Die Vielfalt der Probleme, über die man straucheln kann, ist gross.
Mein erstes Beispiel habe ich vor über 30 Jahren als Kind erlebt: Auf Vorschlag einer berühmten Beraterfirma führte mein Vater in der Pumpen-Instandhaltung einen flexiblen Reparaturprozess ein. Die Kosten waren riesig und das Experiment wurde nach einem halben Jahr abgebrochen. Grund für das Scheitern war die Verschiedenheit der Pumpen, die eine sinnvolle Planung der Reparaturarbeit verunmöglichte. Später habe ich als Wissenschafter zahlreiche andere Probleme in der Praxis beobachtet. Die meisten davon lassen sich auf einen von drei Problemtypen reduzieren:
- Fundamentale Nicht-Planbarkeit der Prozesse
- Fehlende, ganzheitliche Qualitätsmanagement-Orientierung bei der Einführung des Prozessmanagements
- Ungenügende Integration der Einzelprozesse und Prozessinstanzen respektive der in ihnen anfallenden Informationen
Dazu kommen im Fall reiner Prozessmodellierung das Grundproblem der richtigen Granularitätswahl bei einer Modellierung sowie die häufige Nicht-Abbildbarkeit der Prozesse auf die vorhandenen IT-Strukturen, wenn die Prozessmodellierung vom Business alleine durchgeführt wird. Ausserdem stellt bei der Automatisierung die Reusability-orientierte Modellierung oft eine harte Herausforderung dar. Und wenn sich die Anforderungen an die Prozesse ändern, ist es häufig sehr aufwendig, diese entsprechend umzustellen.
Leider ist das Vermitteln der Thematik schwierig, weil sie gegen den Meinungsmainstream steht: In Vorträgen werden gerne intellektuelle Nebelpetarden à la «alles ist ein Prozess» geworfen, um den Zuhörern das gute Gefühl zu vermitteln, sie seien selber Prozessexperten. Und 80 Prozent der Literatur fokussiert sich auf das Erzählen von Erfolgsgeschichten und diskutiert nur banale Probleme. Wobei manche literaturbekannten Erfolgsgeschichten bei Insidern eher als Desaster gelten. Wahrscheinlich findet sich sogar der Pumpen-Reparaturprozess aus meiner Kinderzeit in einigen Lehrbüchern als Erfolgsbeispiel wieder.
Der einzige Weg zur Vermeidung von Prozess-Desastern ist die Beschränkung des Geschäftsprozessmanagements auf jene Fälle, in denen aus Qualitätsmanagement-Perspektive ein klarer Bedarf besteht und der Nutzen unmittelbar einsichtig ist. Auch dann müssen die Prozessverantwortlichen immer wieder die Qualitätsperspektive thematisieren und kommunizieren. Sie müssen das Prozessmanagement aus der Geschäfts- und der IT-Perspektive gleichermassen verstehen und regelmässig auf den Nutzen ausrichten, weil es sonst zu verbürokratisieren droht. Zudem ist es wichtig, die Gesamtperspektive über alle Prozesse und alle Prozessinstanzen eines Prozesses zu wahren. Dafür ist die Informationsintegration über Prozesse und Applikationen hinweg Vorbedingung. Die resultierende Gesamtschau muss aber auch genutzt und verstanden werden. Das alles klingt viel einfacher, als es in Wirklichkeit ist!