Editorial

Ein Visionär hat's schwer


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2008/04

     

Diesen Sommer verlässt Bill Gates die of­fi­zielle Bühne des Tagesgeschäftes bei Microsoft und wird sich in Zukunft nur noch um die mit seiner Ehefrau Melinda vor Jahren ins Leben gerufene Stiftung kümmern. Mit Sicherheit dürfte es neben der offiziellen Version auch inoffizielle Gründe geben. Fraglich ist, ob der Konzern unter seiner technischen Leitung die angestrebte Transformation von einem reinen Softwarekonzern in ein Unternehmen, das einen substantiellen Teil seiner Einnahmen aus Services erwirtschaftet (wie immer diese konkret aussehen mögen), tatsächlich geschafft hätte. Doch solche Spekulationen würden das Lebenswerk eines Mannes schmälern, der den PC-Softwaremarkt in seiner heutigen Form geschaffen hat.





Manches, was über Bill Gates Teil des öffentlichen Allgemeinwissens ist, dürfte wahr sein, manches wurde sicherlich von der PR-Abteilung lanciert. Sein Hang zur Sparsamkeit ist sicherlich keine Legende, wenngleich er wie jeder Multimilliardär seine Yacht besitzt und irgendwo im Bestand wird sich noch ein Porsche 959 befinden, sofern er endlich seinen Weg aus einem Zollgebäude im Hafen von San Diego nach Redmond gefunden hat. Hätte es Ende der 80er Jahre bereits YouTube gegeben, wäre manche «Episode» für die Nachwelt verewigt worden, die sich nicht mit diesem Öffentlichkeitsbild in Einklang bringen lässt. Eine Legende ist sicherlich die offizielle Version über die MS-DOS-Lizenzvereinbarung mit IBM (vermutlich einer der lukrativsten Deals in der Industriegeschichte), die angeblich durch aktive Mitwirkung seiner Mutter zustande kam, die sich damals im selben Wohltätigkeitsverein wie ein IBM-Vorstandsmitglied befand.




Vorbei mit Legenden und Gerüchten ist es, wenn es um eine Beurteilung seiner wirtschaftlichen Erfolge geht. In seiner Gründergeneration ist Bill Gates mit Abstand Klassenbes­ter. Ob Ashton Tate, Borland, Lotus, Novell, die Software-Division von IBM oder WordPerfect, keines der Unternehmen hat sich gegen Microsoft auch nur im Entferntesten behaupten können, und selbst Apple verdankte sein Überleben angeblich einer Finanzspritze von Microsoft. Ähnlich erfolgreich entwickelt hat sich nur Oracle, das aber nie den «Fehler» gemacht hat, sich im Windows-Bereich zu verzetteln.



Es ist leider wohl eine Zeiterscheinung, dass die öffentliche Wahrnehmung mehr durch spektakuläre Flops, die es auch bei Bill Gates regelmässig gegeben hat, als durch Erfolge geprägt wird. Diese hat es auch bei der Konkurrenz gegeben, nur weniger öffentlichkeitswirksam. Die junge Entwicklergeneration wird einen Bill Gates als Leitfigur sicher nicht vermissen. Zwischen einem auf Disketten basierenden Betriebssystem und Web 2.0 liegen mehr als nur Generationen. Sein visionär gedachtes, Mitte der 90er Jahre erschienenes Buch «The Road Ahead» liest sich heute ein wenig so, als wäre es für einen anderen Planeten geschrieben worden, auf dem das Internet lediglich eine kleine Randerschei-
nung ist.




Das Lebenswerk von Bill Gates ist trotzdem über alle Zweifel erhaben. Ihm verdanken wir, dass wir im Supermarkt einen PC für 600 Franken kaufen können, der mit dem Einschalten funktioniert und an dem sich praktisch jedes moderne Gerät anschliessen lässt. Ihm verdanken wir eine Industrie, die Millionen von Arbeitsplätzen in der ganzen Welt geschaffen hat, und er wird als einer der, wenn nicht vielleicht sogar der grösste, Philanthropen und Kämpfer gegen AIDS in die Geschichte eingehen. Den «Evil Bill» mit seinem zwanghaften Drang alles zu monopolisieren, wird ihm dafür sicher verziehen.




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