Editorial

Paulo Coelho: Warum ich meine Bücher klaue


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2008/03

     

Überraschung: Der weltberühmte Autor Paulo Coelho («Der Alchemist» und zahlreiche weitere Bestseller) klaut seine eigenen Bücher. «Verleger versuchen noch immer, Inhalte gegen Piraterie zu schützen», erklärt er, «dabei ist der Krieg längst verloren.» Coelho hat seine Erfahrungen gemacht. Im Jahr 2000 hat er auf seiner Webseite die speziell dafür geschriebenen «Geschichten für Eltern, Kinder und Grosskinder» veröffentlicht. Innert fünf Monaten wurde das Buch mehr als eine Million Mal heruntergeladen. «Aber bis heute habe ich zu den Geschichten keinen einzigen Kommentar erhalten», sagt er, «was ich nur damit erklären kann, dass die meisten Leute das Buch heruntergeladen, es aber nicht oder nur einige Seiten gelesen haben. Sie laden es herunter, weil sie es besitzen wollen. Aber wenn jemand tatsächlich lesen will, geht er hin und kauft sich das Buch.»



«Ungefähr zur selben Zeit», so Coelho weiter, «habe ich im Netz eine geklaute russische Übersetzung von ‹Der Alchemist› gefunden. Von diesem Buch verkauften wir damals in Russland bloss nicht gerade eindrückliche rund 1000 Stück. Aber ich sagte, hey, lassen wir doch die Piratenversion online, soll sie doch jeder herunterladen. Und tatsächlich: 2001 verkauften wir zum Erstaunen aller Beteiligten 10’000 Exemplare des Romans, und im Jahr darauf waren es schon über 100’000 – und das ohne Marketing. Sie können es glauben oder nicht, es lag an der freien Piratenversion. Die Leute haben sie heruntergeladen, fingen zu lesen an, mochten es und gingen das gedruckte Buch kaufen. Im dritten Jahr», so Coelho, «waren wir bei über einer Million Exemplaren, und inzwischen wurden in Russland über 10 Millionen Bände verkauft.»




«Ich finde das absolut fantastisch», sagt Coelho. «Man lässt dem Leser die Wahl, ob er die Bücher kaufen will oder nicht, nachdem er die Möglichkeit gehabt hat, sie zu lesen, zu testen.» Allerdings musste Coelho erst einen Weg um die zahlreichen Copyright-Bestimmungen finden, um nicht von jedem Verleger und Übersetzer Bewilligungen einholen zu müssen. Die Lösung: Coelho beklaute sich selbst. «Ich ging auf BitTorrent und sammelte all meine geklauten Bücher in vielerlei Sprachen. Damit habe ich dann die Site ‹PirateCoelho› aufgebaut.»



Dabei handelt es sich um ein Blog, auf dem er Links zu all den geklauten Texten und Hörbüchern veröffentlicht, die in Datei-Sharing-Netzen, FTP-Seiten und anderen Online-Ressourcen zu finden sind. «Ich habe von meinem eigenen Blog einen Link auf ‹PirateCoelho› gesetzt und tat einfach ein wenig naiv, um den Eindruck zu erwecken, ‹PirateCoelho› würde von jemand anderem gepflegt.» Tatsächlich aber, behauptet Coelho, hätten die Gratis-Versionen die Verkäufe erst richtig angekurbelt: «Es gibt nichts Falsches daran, etwas kostenlos abzugeben, im Gegenteil, es stimuliert die Leute zu lesen und das Buch zu kaufen, denn sie können sich vorher einen guten Eindruck davon machen.»



Coelho erzählte diese Geschichte an der DLD-Konferenz im Januar in München. Wie er mir da erklärte, nutzt er das Web für alles Mögliche: Er hat Websites, führt Blogs, ist in sozialen Netzwerken aktiv und nutzt weitere Werkzeuge, um seine Meinungen zu verbreiten – und seine Bücher zu vermarkten. Dabei führt er auch einige interessante Online-Experimente durch.



Eines davon ist «The Experimental Witch» (www.paulocoelhoblog.com), ein Wettbewerbs- und Kollaborations-Projekt für Filme, das auf Coelhos Roman «Die Hexe von Portobello» basiert: «Ich habe die Sites meiner Leser abgegrast und dabei tolle Werke von Schauspielern, Musikern, Regisseuren usw. gefunden. Und da habe ich mir gedacht: Warum machen wir eigentlich nicht gemeinsam einen Film daraus?» Aber wie sollte das funktionieren? Das Buch ist eingeteilt in die Perspektiven von fünfzehn verschiedenen Erzählern. Coelho lädt nun Filmemacher ein, sich einen Erzähler auszusuchen und ein Video mit allen Szenen zu drehen, in denen ihr Erzähler mit der Hauptperson, Athena, interagiert. «Da es eine Vielzahl von Projekten gibt, sieht Athena immer wieder komplett anders aus – mal ist sie weiss, dann wieder schwarz oder wird von einer Asiatin gespielt. Aber das dient dem Ganzen, denn Athenas Figur ist genau in dieser Weise fliessend angelegt.»



Nachdem die Szenen gedreht und auf ein privates YouTube-Konto hochgeladen sind, werden die besten ausgewählt und in den endgültigen Film integriert. Alle Rechte gehen dabei an Coelho, die Filmemacher erhalten bloss 3000 Euro und einen Teil vom Ruhm – falls das Projekt gelingt. Die Ambitionen allerdings sind hoch, wie Coelho erklärt: «Wir schreiben Filmgeschichte mit dem ersten Film, bei dem seine Erzähler auch selber Regie führen.»




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