Editorial

Web 2.0: Stop, wasting time!


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/22

     

Neulich bei der Auslosung zur Qualifikationsrunde der Fussball-WM: Auf der Tafel erscheinen nach und nach die bunten Fähnchen vieler Staaten, die, was ihre Position im überschaubaren und wunderbar geordneten Fussball-Kosmos angeht, für einen kurzen Augenblick wichtig sind. Ein wenig erinnerten mich die exotischen Namen an jene APIs, die zur Zeit aufpoppen und wieder verschwinden. Was hat es nicht schon alles gegeben: Google-APIs, Yahoo-APIs, Flickr-APIs und natürlich Windows-Live-APIs, die oft aus nicht mehr als aus ein paar
JavaScript-Funktionen bestehen.



Der neueste Hausfrauensport in den USA ist es offenbar, Facebook-Erweiterungen zu erstellen, natürlich mit einer Facebook-API.
Web 2.0 entwickelt sich für mich im Moment in eine vollkommen falsche Richtung. Statt einem echten Mehrwert, wird viel Zeit damit vergeudet, Inhalte zu schaffen, die in kürzerer Zeit wieder vergessen werden, als für ihre Kreation aufgewendet wurde. Selbst Microsoft konnte es nicht lassen, in die Keynote der TechEd for Developers einen Hinweis auf ein Visual-Studio-Add-in für die neue Mashup-Seite Popfly einzubauen. Popfly ist für mich in etwa die moderne Steigerung von überflüssig, genau wie die meisten Web-2.0-Aktivitäten leider nur eines sind: eine grandiose Form der Zeitverschwendung.




Portale wie iGoogle oder Windows Live machen auf den ersten Blick einen vernünftigen Eindruck. Man stellt sich bequem alles das zusammen, was einen theoretisch interessieren könnte. Tagesaktuelle News, RSS-Feeds der Lieblingsexperten, eine hübsche Slideshow mit Bildern über seltene Pinguine sowie der Fahrplan der Londoner U-Bahn und freut sich über das schnelle Erfolgserlebnis. Doch wenn man das nächste Mal den Browser startet, um schnell eine Zugverbindung in Erfahrung zu bringen, beobachtet man den Browser, wie er in aller Ruhe die Seite aufbaut, weil die Daten der Londoner U-Bahn doch etwas länger brauchen. Bis das letzte Mashup geladen wurde, ist der Zug längst weg. Hier heisst das Motto entweder «keep it simple» oder gleich zurück zur Urform aller Startseiten, die das Logo einer bekannten Suchmaschine ziert.



Viele Web-2.0-Auswüchse sind in erster Linie etwas für die 17- bis 27-Jährigen, die alle Zeit der Welt haben, mehr oder weniger sinnfreie Inhalte zu produzieren. Ihr Guru ist Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Der junge Mann hat einen Charisma-Level von etwa 0 und propagiert fröhlich das Zeitalter der Social Networks. Der Marktwert seiner Firma schoss dank einer kleinen Microsoft-Beteiligung in kürzester Zeit auf wahnwitzige 15 Milliarden Dollar. Für mich ein sicheres Zeichen dafür, dass eine Blase wieder gefährlich gross geworden ist. Bill Gates musste vor 30 Jahren noch Disketten herstellen, Boxen ausliefern und jahrelang die Computermessen bereisen, bevor ihm mit Windows der Durchbruch gelang.



Viele Web-2.0-Spielarten bergen eine doppelte Gefahr. Zum einen sind sie eine Goldmine mit privaten Daten aller Art, die zu Missbräuchen nur so einlädt (Facebook ist bereits in die Schlagzeilen geraten, weil Mitgliederdaten per Data Mining ausgewertet werden – wie käme der aberwitzige «Marktwert» sonst zustande?). Und sie halten Entwickler davon ab, sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen. Zum Beispiel mit Webanwendungen, die private Daten wirklich schützen. Auf diesen Web-2.0-Trend warte ich bislang vergeblich.




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