Editorial

Das Bett des Prokrustes und die Informatik


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/18

     

In der griechischen Sagenwelt war Prokrustes jener sture Riese, der jeden, den er ergreifen konnte, auf ein Bett legte und ausmass. Dann streckte er die zu Kurzen und kürzte die zu Langen, bis sie in sein Bett passten. An diese böse Geschichte muss ich gelegentlich denken, wenn ich sehe, wie gewisse Informatik-«Lösungen» mit den Anwendern umgehen.




- Beispiel 1: Letzte Woche wollte ich bei einer Bank Wertpapiere hinterlegen, gegen Quittung selbstverständlich. Die Dame hinter dem Schalter öffnet dazu auf ihrem Bildschirm ein passendes Formular und tippt eine ganze Menge Angaben von meinen Unterlagen ab – und ich warte. Dann verlangt das Formularprogramm eine weitere Angabe, die wir beide nicht kennen. Also werden mehrere andere Bankdamen und -herren eingeschaltet, bis endlich eine Quittung ausgedruckt werden kann. Ich stand 40 Minuten vor dem Schalter. Vor dem Computerzeitalter gab es Quittungsblöcke mit Durchschreibedoppel – das Ausfüllen dauerte damals zwei Minuten.




- Beispiel 2: Ich muss für einen Theaterverein vierteljährlich ein Mehrwertsteuerformular ausfüllen. Diese Formulare werden von der MwSt.-Verwaltung auf deren Computer vorbereitet und enthalten auch einen Strichcode zur Identifizierung. Den Inhalt, also unsere Finanzzahlen, muss ich aber selber und ohne Computer auf dem Papierformular eintragen, also entweder mit der Schreibmaschine (ich habe noch eine Hermes) oder schlicht von Hand. Selbstverständlich berechne ich die verlangten Zahlen aus der Buchhaltung mit Computerhilfe. Und dann schreibe ich sie sorgfältig ab – die MwSt.-Verwaltung will es so.




- Beispiel 3: Vor der Abreise in die Ferien adressiere ich meine Tageszeitungen um, bequem und rasch online über Internet. Trotzdem ein Wermutstropfen: Bei einer meiner Zeitungen verlangt das Online-Formular bei der Ferienadresse eine zweite Zeile (für Hotel oder Vermieter), und das zwingend. Bleibt die Zeile leer (weil sie beispielsweise für die Ferien­adresse gar nicht benötigt wird), kommt die Umleitungsmeldung nicht zustande. Inzwischen kenne ich den Trick: Ich tippe in jene Zeile ein Leerzeichen und alles läuft wie gewünscht. Wie reagieren aber unsichere Computeranwender bei solchen Hindernissen?


In diesen Beispielen geht es um unflexible Datenerfassungsprogramme. Bei deren Entwicklung standen die Bedürfnisse des Betriebs im Vordergrund, jene der Kunden wurden diesen untergeordnet. Der Betrieb verlangt bei computergestützten Geschäftsprozessen, dass mit geeigneten Formularen wirklich alle dafür benötigten Daten erfasst werden, wenn nötig mit technischem Zwang (Beispiele 1 und 3) oder mit altväterischen Papierlösungen und juristischem Druck (Beispiel 2). Damit sollen primär aufwendige Rückfragen vermieden werden.


Die obigen Beispiele zeigen aber auch, dass mit etwas mehr Rücksicht auf «die andere Seite» Barrieren abgebaut und die Zusammenarbeit gerade dank Informatiklösungen erleichtert werden könnten. Informatikanwender sollen sich nicht unnötig «den Zwängen der Informatik» unterordnen müssen. Prokrustes mit seinem Bett hat in der Informatik nichts zu suchen.




Artikel kommentieren
Kommentare werden vor der Freischaltung durch die Redaktion geprüft.

Anti-Spam-Frage: Vor wem mussten die sieben Geisslein aufpassen?
GOLD SPONSOREN
SPONSOREN & PARTNER