Editorial

Video-Frühstück mit Grossmutter (und andere unübliche Skype-Anwendungen)


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/17

     

Zugegeben: Ich bin fasziniert von all den fantasievollen Anwendungen, für die meine Mitmenschen die auf VoIP basierenden Technologien wie Skype, MSN, GoogleTalk, iChat und all die anderen Voice- und Video-Telefonie-Services nutzen. Dabei haben Soziologen und Kommunikations-Anthropologen in Untersuchungen gezeigt, dass die Anzahl oder auch die durchschnittliche Länge von Telefonaten auf Dauer nicht signifikant zunimmt – und zwar unabhängig davon, wie günstig das Telefonieren ist. Selbst bei Gratisangeboten wird kaum häufiger oder länger telefoniert. Dies liegt vor allem daran, dass man nur einen beschränkten Zeitrahmen für Telefongespräche zur Verfügung hat. Dazu kommt, dass ein Telefongespräch wesentlich mehr Aufmerksamkeit erfordert als beispielsweise eine Instant-Messaging-Session: Während man bei letzterer einigermassen problemlos zwei oder mehr Gespräche parallel führen kann, ist dies bei Voice-Kommunikation nur sehr schwer möglich.



Nichtsdestotrotz: Der Aufschwung der Gratis­telefonie über das Internet, und hier ganz speziell von Skype, dem derzeit mit Abstand populärsten Service, hat die Menschheit zu neuen, unkonventionellen und kreativen Nutzungen von Sprach- und Videokommunikation geführt. Nachdem ich immer wieder Kollegen mit ungewöhnlichen Geschichten an Konferenzen getroffen habe, begann ich vor einiger Zeit damit, weitere ausgefallene Stories und Anekdoten über meinen Blog zu sammeln, und einige hat auch Skypes eigene Website dazugesteuert. Hier ein paar Beispiele:




- Eine amerikanische Band, die sich nach ihrer College-Zeit getrennt hatte, wollte zu ihrem 10-Jahr-Jubiläum nochmals gemeinsam auftreten. Allerdings lebten die Band-Mitglieder derweil über halb Amerika verstreut. So haben sie ihren grossen Revival-Gig mit einigen Verstärkern und Mikrofon-Adaptern kurzerhand über Skype geprobt.



- Ein Piano-Lehrer aus Illinois gab persönlichen Unterricht an Schüler aus Europa und Australien. Er hat ihnen einfach seine Arrangements zugeschickt und liess sie übers Internet vorspielen.



- Eine Familie, die aus dem Balkan in die Schweiz gezogen war, hat in ihrem Esszimmer einen grossen Bildschirm mitsamt einer Webcam installiert. Fast jeden Morgen können sie so mit ihrer Grossmutter gemeinsam frühstükken – obwohl diese immer noch im Kosovo lebt.



- Die Tochter einer anderen Immigrantenfamilie nutzt die freien Videotelefonate übers Internet, um mit ihrer Tante zusammen, die Lehrerin in Spanien ist, ihre Hausaufgaben zu lösen.



- Ein Grossvater lebt in New York, die Familie seiner Tochter in Kalifornien. Dennoch kann er seinen Enkel mehrmals wöchentlich virtuell zu Bett bringen und ihm die Gute-Nacht-Geschichte vorlesen.



- Als der Hurrikan Katrina New Orleans zerstörte, hat eine Gruppe von Freiwilligen unter anderem aus Indien, Europa und Amerika sehr schnell mit Hilfe von SkypeIn und SkypeOut ein virtuelles Call- und Messaging-Center aufgebaut, das Informationen und Notrufe aus dem verwüsteten Gebiet weiterleitete.



- VeeSee TV in Grossbritannien ist eine webbasierte Fernsehstation, die Nachrichten und andere Sendungen für taube Zuschauer ausstrahlt. Über die Website des Senders und die dortige Videokonferenz-Lösung können die Zuschauer über ihre Webcam in Zeichensprache untereinander kommunizieren.



- Manche Eltern nutzen Skype als Baby-Phone, indem sie Geräusche oder auch Videobilder vom Schlafzimmer in einen anderen Raum übertragen lassen.



- Findige Kunden rufen einen Helpdesk oder Kundendienst nur noch über Skype an und nutzen die über Plug-ins bereitgestellte Aufnahmefunktion, um im Zweifelsfall belegen zu können, wie miserabel der erhaltene Service war.



- Auch immer mehr Sprachschulen nutzen die Internettelefonie für ihren Unterricht. So können die einzelnen Lektionen über Podcasts verbreitet werden, während das individuelle Gespräch mit dem muttersprachlichen einheimischen Lehrer über Skype erfolgt.



Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass all diese Anwendungen von Skype, MSN und ähnlichen Diensten weder von den Entwicklern noch von deren Marketing-Abteilung jemals vorgesehen waren. Es gibt allerdings eine lange Tradition von solchen unbeabsichtigten Adaptionen, die zu Thomas Edison, Antonio Meucci und sogar noch weiter zurückreicht. In jüngerer Zeit haben auch die Erfinder des Internet und die Entwickler des Web keineswegs geplant, ein Netzwerk zu kreieren, das dereinst dafür genutzt würde, um mit Avataren zu kommunizieren, Videos zu streamen oder Flüge zu buchen. Es ist einzig der Offenheit und Flexibilität ihrer Erfindungen zu verdanken, dass derartige Anwendungen überhaupt möglich wurden.



Und das führt mich zu einer Behauptung: Erfolgreiche Kommunikationstechnologien sind solche, die mit einer grösstmöglichen Offenheit entwickelt werden. Was ein Erfolg wird, bestimmen weder die Entwickler noch das Marketing, sondern nur der Anwender in der täglichen Praxis.




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