Handy-Avatare – Möglichkeiten der mobilen Kommunikationsunterstützung
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/12
Die Idee der künstlichen Kreatur ist alt und Thema von Mythen und Legenden, Märchen und Sagen. Die meisten der Wesen bestehen aus Materialien wie Lehm, Holz und Eisen oder gar aus Fleisch und Blut. In Goethes Faust tritt eine eigentümliche Virtualität auf: Homunculus braucht die Umgebung der Phiole, in der er existieren kann; eine eigentliche Leibwerdung ist ihm (vorerst) versagt. Diese Idee ähnelt der Virtualität von Avataren und Agenten, denn auch sie benötigen zu ihrer Existenz einen virtuellen Raum.
Der Begriff «Avatar» stammt aus dem Sanskrit und bezeichnet dort die Gestalt, in der sich ein (hinduistischer) Gott auf der Erde bewegt. Der Avatar dient damit einer visuellen Repräsentation und hat eine Stellvertreterfunktion. Im Kontext neuer Medien handelt es sich um grafische, teils dreidimensionale und animierte virtuelle Repräsentationen von realen Personen oder Figuren. Möglich ist die Kombination mit Agententechnologien. Auf diese Weise werden etwa Eigenschaften wie Zielorientiertheit, Autonomie und Intelligenz beziehungsweise die Fähigkeit zu natürlicher Sprache erreicht und die Avatare zu «echten» künstlichen Kreaturen.
Zur Zeit bereitet man die Avatare auf eine neue Umgebung vor. Sie sollen nicht nur in PCs und Notebooks agieren, sondern auch in Handys. Man bekommt sie mitgeliefert, lädt sie herunter oder erstellt sie selbst und verschickt sie von Gerät zu Gerät. Damit ergeben sich interessante Implikationen. Zum einen ist eine massenhafte Herstellung wahrscheinlich, sowohl als Konfektionsware (Avatare für die Massen) als auch in individueller Form (Massen machen Avatare). Zum anderen werden die Avatare mobil und so zu Begleitern in allen möglichen Situationen.
Es ist offensichtlich, dass man Handy-Avatare bald in vielen verschiedenen Anwendungsbereichen antreffen wird. Sie setzen auf bestehenden Diensten auf oder schaffen gänzlich neue Anwendungsformen.
Viele der interaktiven Multimedia-Anwendungen von morgen werden auf dem Standard MPEG-4 basieren, der eine Übertragung audiovisueller Objekte in komprimierter Form unterstützt und deren Darstellung in sogenannten Szenen definiert. Eine Szene setzt sich in MPEG-4 aus bestimmten Objekten, den Medienobjekten, zusammen. Die Medienobjekte einer Szene sind hierarchisch gruppiert, so dass sich für den Aufbau einer Szene ein gerichteter, zyklenfreier Graph (Szenengraph genannt) ergibt, der sowohl die räumliche als auch die zeitliche Positionierung der einzelnen Objekte beschreibt. MPEG-4 definiert auch die Synchronisation der Daten zur Übertragung, die Interaktionsmöglichkeiten des Empfängers mit der audiovisuellen Szene und die Spezifikation von Charakteranimationen.
Die 3D-Computermodelle eines Charakters, zum Beispiel im VRML-Format (Virtual Reality Modeling Language), werden einmalig übermittelt und die Bilder im folgenden nur mit Mimik- und Bewegungsparametern beschrieben. Auf diese Weise kann mit einer geringen Übertragungsrate beispielsweise ein lebensechtes Abbild eines sprechenden Menschen übertragen werden. Zur Beschreibung und Animation virtueller Charaktere definiert MPEG-4 ein FBA-Objekt (Face and Body Animation). Ein FBA-Objekt ist eine Sammlung von Knoten eines Szenengraphen und wird durch zwei Bitstreams bestimmt und animiert (siehe Grafik Seite 52). Der BIFS-Bitstream (Binary Format for Scenes) trägt die Informationen über die Face Definition Parameters (FDPs) und die Body Definition Parameters (BDPs) und definiert damit die Gestalt des Avatars. Der FBA-Bitstream enthält die Face Animation Parameters (FAPs) und die Body Animation Parameters (BAPs) zur Animation des Charakters.
Mit dieser Technik ist es möglich, Gesichts- und Körperanimationen auch auf Handys und Personal Digital Assistants (PDAs) zu streamen, wo das dreidimensionale Modell des Avatars in Echtzeit dargestellt und zum Leben erweckt werden kann. Voraussetzung auf Empfängerseite sind eine 3D-Engine sowie ein MPEG-4-FBA-Player, die zur Zeit für verschiedene mobile Systemumgebungen entwickelt werden. Besonders zu erwähnen in diesem Zusammenhang ist die auf dem erst kürzlich verabschiedeten Java-Standard JSR 184 (Mobile 3D Graphics API) basierende Technologie zur Darstellung von 3D-Grafiken auf dem Handydisplay.
Das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST in Dortmund widmet sich in einem seiner Schwerpunkte dem Thema Informationslogistik. Untersucht und entwickelt werden unter anderem neue Instrumente und Verfahren der Informationsversorgung und Kommunikationsunterstützung. Auch Handy-Avatare geraten dabei ins Blickfeld.
Handy-Avatare als Kommunikationshilfen
Handy-Avatare als persönliche Assistenten
Handy-Avatare als Berater
Handy-Avatare als Guides
In allen Fällen stellen die Avatare ganz besondere Schnittstellen dar, nämlich künstliche Kreaturen, die Mimik und Gestik und oft auch die natürliche Sprache beherrschen. Teilweise ist auch das Fällen von Entscheidungen und ein Dazulernen möglich. Für die intelligenten Fähigkeiten ist - wie erwähnt - eine Kombination mit Agententechnologien erforderlich.
Der Handy-Avatar als Kommunikationshilfe ergänzt SMS oder andere «mobile» Mitteilungen. Zunächst wird er (sofern er nicht bereits mit dem Gerät mitgeliefert wurde) über eine Website oder einen Messaging-Dienst bezogen oder vom Benutzer selbst erzeugt, mit Hilfe eines entsprechenden Autorenwerkzeugs. Dann wird er beispielsweise mit einer SMS verschickt. Beim Empfänger angekommen, spricht der Avatar die Mitteilung vor oder präsentiert den geschriebenen Text, etwa in einer Sprechblase. Er ergänzt die sprachliche Information durch Mimik und Gestik und damit auch durch Emotionen.
Ein Beispiel für Handy-Avatare dieser Art ist ExMS aus dem Hause Nokia. Der Prototyp wurde erstmals auf der CHI im November 2003 präsentiert. Kern der Anwendung ist ein animierter Messaging-Agent, der zusammen mit einer Nachricht aufs Display kommt.
Das Fraunhofer ISST geht in diesem Bereich verschiedene Fragestellungen an. Der Benutzer soll beispielsweise sein eigenes Bild als Grundlage des Avatars hernehmen und mit zusätzlichen Modulen verfremden können. Vom Absender verwendete Sonderzeichen wie Emoticons sollen vom Avatar auch äusserlich umgesetzt werden; ein Satz, den der Benutzer mit einem ;-) abgeschlossen hat, wird von der Figur mit einem Augenzwinkern kommentiert. Insgesamt werden weniger kommerzielle Anwendungen für einen Massenmarkt ins Auge gefasst, sondern mehr betriebliche Felder: Der Avatar repräsentiert den Mitarbeiter bei Videokonferenzen, vertritt ihn bei Abwesenheit, verwaltet und analysiert Nachrichten und ist ihm bei der Beantwortung von Anfragen behilflich, wobei er auch Informationen besorgt, die dem Mitarbeiter vor Ort nicht vorliegen. Die entsprechenden Forschungen finden in der Arbeitsgruppe Business Communication statt.
Handy-Avatare können auch als persönliche Assistenten des Benutzers fungieren. Der Avatar ist in diesem Fall ständiger Bewohner des Handys und nimmt Anfragen und Aufträge des Benutzers entgegen; bei eingehenden Nachrichten, wichtigen Ereignissen und in offensichtlichen Problemsituationen meldet er sich. Sinnvoll ist es, dass das künstliche Wesen seinen Meister kennenlernt und damit nicht nur Bote aus der virtuellen Welt heraus ist, sondern auch Informationen aus der realen abholt.
Siemens hat bereits einen Avatar im Sinne eines persönlichen Assistenten entwickelt. Präsentiert wurde er zuletzt auf der CeBIT 2004. Der Avatar lebt in Java-fähigen Handys und verfügt über ein Text-to-Speech-Modul. Er fungiert als Sympathieträger, der dem Anwender die mobile Kommunikation und die Informationsversorgung erleichtern soll.
Das ISST arbeitet an einer möglichst vollständigen Abdeckung von individuellen Bedürfnissen. Dem Benutzer, der vor allem News und Staumeldungen geliefert haben will, soll genauso gedient werden wie demjenigen, der Unterstützung bei seiner Terminplanung, bei fachlichen Fragen und in seiner Weiterbildung benötigt. In diesem Bereich arbeiten mehrere Teams des ISST, wobei sie sich von verschiedenen Seiten nähern; die Erstellung einer informationslogistischen Architektur ist hier genauso relevant wie die Herstellung von Realismus und Vertrauenswürdigkeit in den Aktionen der Avatare.
Der Handy-Avatar als Berater wird mit Produkten mitgeliefert oder ist in einer Dienstleistung enthalten. Er erklärt Funktionen und Möglichkeiten, gibt Hinweise zu Betrieb und Ablauf und steht als Ansprechpartner bereit. So hilft er etwa beim Aufbau eines Schranks oder bei Versicherungsangelegenheiten. Bei weitergehenden Fragen stellt er eine Verbindung zu einem menschlichen Berater her.
Das ISST arbeitet in diesem Kontext derzeit vor allem an produktorientierten Dienstleistungen. Beispielsweise soll der Handy-Avatar Allergikern, Diabetikern, Übergewichtigen und Vegetariern beim Einkaufen im Supermarkt eine Hilfe sein. Er kennt die Vorlieben und Probleme seines Besitzers und kann auf umfangreiche Datenbanken zugreifen. Er liest Informationen aus dem Barcode oder der Radio Frequency ID (RFID) eines Produkts und gibt dann in leicht verständlicher Form darüber Auskunft, ob dieses für den Benutzer geeignet ist oder nicht, etwa indem er den Kopf schüttelt oder seine Gesichtsfarbe wechselt. Das ISST tritt mit einem entsprechenden Szenario - «Das gläserne Produkt» genannt - bereits an den Handel heran.
Der Handy-Avatar als Guide führt durch Regionen und Länder, Städte und Landschaften, Gebäude und Museen. Er wird über eine Website oder an bestimmten Orten und in speziellen Einrichtungen (etwa in einem Eingangsbereich oder einem Tourist Office) heruntergeladen. Er erklärt, kommentiert und beantwortet Rückfragen. Beispielsweise begleitet er als Kant in Königsberg, Goethe in Weimar und Einstein in Ulm den Benutzer durch die Stadt, durch Strassen und Cafés. Virtuelle «Infopoints», realisiert über RFIDs oder Ortungssysteme, laden zu einer Vertiefung ein; so erfährt man etwa, wo Einstein geboren wurde oder Goethe geschrieben hat.
Das ISST konzipiert derzeit - aufbauend auf langjährigen Erfahrungen bezüglich digitaler Begleiter und interaktiver Diensteplattformen - ein mobiles, kontextsensitives System für Spiele und Führungen in Museen und anderen Ausstellungsstätten. Anwender, etwa Kinder und Jugendliche, können ihre eigenen Mobilgeräte benutzen und bekommen in Abhängigkeit von Aufenthaltsort (zur Ortung werden Bluetooth-Technologien eingesetzt) und individuellen Interessen (in Form von Anwenderprofilen) durch den Avatar gezielt Informationen angezeigt. Das künstliche Wesen stellt auch Fragen, die anhand von Exponaten beantwortet werden können; die Auswertung wird umgehend geliefert. Die Kinder und Jugendlichen sollen zudem die Möglichkeit haben, sich vom Avatar durch die Räume navigieren zu lassen und Avatar-basierte Text- und Multimedianachrichten auszutauschen.
Homunculus stürzt sich nach verschiedenen Diensten für Faust und Mephistopheles im Streben nach seiner Verleiblichung ins Meer, wo seine gläserne Hülle am Muschelwagen der Galatea zerschellt; er gewinnt so einen Neuanfang, da durch die Vereinigung von Feuer und Wasser für ihn nun die Chance entsteht, sich mit der Natur weiter zu entwickeln. Der Avatar wird mit seinem neuen Zuhause, dem Handy, sicherlich zufrieden sein. Allenfalls wird er davon träumen, in gewissen Situationen von einem Miniprojektor an die Wand oder auf eine Fläche aus Nebel geworfen zu werden. Oder davon, dass er ein wenig Gesellschaft in seiner Virtualität bekommt. Aber ansonsten weiss er ganz genau: So gut wird er es nie wieder haben.
Mit MPEG-4 lässt sich ein Avatar aus Objekten, Prametern und Sprache zusammenfügen
Dr. Oliver Bendel leitet die Arbeitsgruppe Business Communication am Fraunhofer ISST in Dortmund.
Dr. Michael Gerhard arbeitet in der Abteilung Coordination Management am Fraunhofer ISST.
Kontakt: bendel@do.isst.fraunhofer.de, gerhard@do.isst.fraunhofer.de