NetWeaver fordert Veränderungen

Die Einführung von SAP NetWeaver in einem Unternehmen hat verschiedene Auswirkungen auf Organisation und Prozesse.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/01

     

Der globale Wettbewerb in nahezu allen Branchen führt bei vielen Unternehmen zu immer kürzeren Produktzyklen. Erfolgreiche Unternehmen zeichnen sich daher durch eine schnelle Reaktion auf aktuelle Markttrends aus. Dies vergrössert den Marktanteil und somit den möglichen Gewinn.
Die gestiegenen Anforderungen führen unter anderem dazu, dass die Unterstützung der IT in den dazu notwendigen Geschäftsprozessen ständig an Variantenvielfalt (Agilität) und Qualität bei gleichzeitig nötiger Minimierung der Kosten zunimmt. Dieses Spannungsdreieck von Agilität, Qualität und Kosten verstärkt die Abhängigkeit zwischen Business und IT.



Damit unterliegt die IT ebenfalls immer schnelleren Anforderungszyklen bei gleichzeitig steigenden Qualitätsanforderungen und zunehmendem Kostendruck. Unternehmen, die optimal auf diese Veränderungen reagieren können, werden vom Marktforschungsunternehmen Gartner als «Real Time Enterprises» bezeichnet.
Ein grosses Problem dieser Entwicklung ist die Zeit: Denn die Zeit zur Umsetzung neuer Anforderungen reduziert sich immer weiter. Daher werden «pragmatische» Lösungen oft auf Basis von Eigenentwicklungen implementiert, die die einzelnen Anforderungen aus dem Business bestmöglich abdecken. Übergreifende Lösungen hingegen werden meist zugunsten von Zeit (Time to Market) und/oder Kosten nicht umgesetzt. Mittelfristig führt dieser Pragmatismus jedoch zu höheren Wartungsaufwänden, was wiederum zur Folge hat, dass die ursprüngliche Zielsetzung zur Optimierung von Flexibilität, Qualität und Kosten auf Unternehmens­ebene nicht erreicht werden kann.





Ein anderer Ansatz besteht in der Implementierung von Standardlösungen als Reaktion auf spezifische Anforderungen. Bei diesem auch als «Best of Bread» bekannten Vorgehen werden die in den jeweiligen Bereichen führenden Lösungen in ein Gesamtkonzept integriert. Dieser auf den ersten Blick sinnvolle Ansatz führt mittelfristig aber ebenfalls zu einer grossen technischen Heterogenität, was eine erhöhte Komplexität der gesamten IT-Landschaft und somit stark erhöhte Wartungskosten nach sich zieht. Erfahrungen zeigen zudem, dass die ursprünglich geforderten speziellen Funktionen nur selten tatsächlich im entsprechenden Mass eingesetzt werden.





Des weiteren haben die Konsolidierungsbestrebungen der Softwarehersteller dazu geführt, dass nicht unbedingt die funktional besten Lösungen am Markt überlebt haben. Viele der ehemals «Best of Bread»-Produkte sind nicht mehr verfügbar oder in die Produktlinien anderer Hersteller aufgegangen. Der Kunde hat daher heute oft keine Wartungs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten durch den Hersteller mehr (ausser über teure Spezialanbieter) und muss sich dadurch mehr oder minder gezwungenermassen mit einem Systemwechsel auseinandersetzen.
Es stellt sich daher die Frage nach einem langfristigen Lösungsansatz, der dem Kunden hilft, die genannten Sackgassen zu vermeiden und gleichzeitig die gestiegenen Erwartungen an eine flexible IT zu erfüllen.





Das Real-Time-Prinzip


Von «Best of Bread» zu «Best of Brand»

Durch den Einsatz von IT-Plattformen mit einem hohen Anteil an Standardfunktionalitäten, die einen Grossteil der Businessanforderungen abdecken, können viele der genannten Nachteile vermieden werden («Best of Brand»). Dieser vor allem aus der Automobilbranche bekannte Ansatz bietet auch in der IT entscheidende Vorteile:




- Standardfunktionen bilden eine gute Basis zur schnellen Abdeckung von Businessanforderungen.


- Die Integration von spezifischen Erweiterungen kann auf Basis einer Plattform einfacher und schneller erfolgen.


- Neue Funktionalitäten stehen allen Lösungen auf der Plattform gleichermassen zur Verfügung.


- Bestehende Funktionen können von neuen Entwicklungen genutzt werden und verkürzen damit den Realisierungs- und Testaufwand.


- Ein Lifecycle-Management von der Entwicklung bis zur Produktivsetzung kann auf einer Plattform einfacher verwaltet werden als in einem heterogenen Umfeld.





SAP hat mit NetWeaver eine derartige Plattform auf den Markt gebracht. Der Reifegrad der einzelnen Komponenten ist zwar noch unterschiedlich, aber die Release-Politik von SAP (NetWeaver ist integraler Bestandteil der neuesten Releases der SAP Solutions) führt dazu, dass die Komponenten dennoch bei den Kunden vorhanden sind. Eine Nutzung dieser Komponenten in neuen Projekten ist dadurch einfacher möglich als der zusätzliche Einkauf SAP-fremder Komponenten. So besteht bereits heute die Möglichkeit, die genannten Vorteile in vielen Unternehmen zu realisieren. Ein Blick auf den Unternehmensalltag zeigt jedoch, dass derzeit meist nur punktuell spezifische Komponenten (z.B. BI, Portal) eingesetzt werden und somit ein «Komponenten-orientierter» Ansatz verfolgt wird. Ein «Prozess-orientierter» Einsatz, bei dem entlang einer neu zu gestaltenden Wertschöpfungskette verschiedenste NetWeaver-Komponenten zum Einsatz kommen, ist erst bei wenigen Unternehmen zu beobachten. Dabei verhindert aktuell weniger der Mangel an technischem Komponenten-Know-how in den SAP-Competence-Centern (SAP CC) die breite Nutzung von NetWeaver als vielmehr organisatorische Hürden. Dies gilt sowohl für Business- als auch für IT-Organisationen.


Organisationsprobleme

Im Klartext heisst dies, dass auf Seiten des Business die bestehenden Organisationsstrukturen oft nicht an Prozessen ausgerichtet sind. Denn Unternehmensprozesse involvieren heute meistens mehrere Abteilungen, bevor ein greifbarer Nutzen für den Kunden entsteht. Historisch werden die Teilprozesse innerhalb der Abteilungen aber meist durch unterschiedliche IT-Systeme unterstützt. Eindeutige Verantwortlichkeiten für Kunden- oder Markt-orientierte Prozesse können nur schwer zugeordnet werden. Prozess- oder Domänen-orientierte Organisationsformen wären daher das Gebot der Stunde, sind aber derzeit noch nicht weitverbreitet. Dies mag auch daran liegen, dass dafür eine kooperative Zusammenarbeit vonnöten wäre, die wiederum die Änderung bestehender «Machtverhältnisse» voraussetzt. Selbst wenn also die IT technische Lösungen zur Unterstützung von übergreifenden (Kunden-/Markt-orientierten) Prozessen anbieten könnte, wären auf Business-Seite nur schwer passende Ansprechpartner und Verantwortlichkeiten zu finden.





Dies gilt selbst für einzelne Services, die technisch bereits heute auf Basis von SAP NetWeaver verfügbar sind. Besonders deutlich wird das im Bereich von Services zur Verwaltung zentraler Business-Objekte (Kunden, Produkte). So ist beispielsweise die fachliche Verantwortung für das Anlegen und Pflegen von Kundenstammdaten in vielen Unternehmen nicht geklärt, wodurch die notwendigen finanziellen Mittel für eine technische Umsetzung derartiger Services durch den Fachbereich nicht freigegeben werden. Eine Lösung ist nur durch die Sensibilisierung und Involvierung des Top-Managements möglich sowie durch die Verankerung der Verantwortung auf entsprechend hoher Ebene. In der endgültigen Konsequenz ist daher eine Reorganisation erforderlich, die eine langfristige Unterstützung von Prozessen und Services sichert. Ein Vorgehen dieser Art darf natürlich nicht der erste Schritt bei der Nutzung von Plattformen wie NetWeaver sein, da dies in vielen Fällen sicherlich die Ablehnung der Plattform zur Folge hätte. Es stellt aber durchaus eine mittelfristige Lösung dar, um die Agilität im jeweiligen Unternehmen nachhaltig erhöhen zu können.






Auf Seiten der IT ergeben sich bei der vollumfänglichen Nutzung von SAP NetWeaver zusätzliche Fragestellungen: Typischerweise ist die Verantwortung für SAP- und Non-SAP-Systeme organisatorisch getrennt. Dabei werden in den Non-SAP-Bereichen oft Entscheidungen bezüglich der Umsetzung von Individualentwicklungen getroffen und umgesetzt. Durch die Positionierung von NetWeaver als Entwicklungsplattform entsteht hier ein Konflikt mit genau diesen Bereichen, die im klassischen Application-Lifecycle bisher anders als SAP positioniert waren.





SAP unterstützt diese Entwicklung durch die Förderung von ISV (Individual Software Vendors), die auf Basis von NetWeaver spezifische Lösungen entwickeln. Die IT muss daher eine organisatorische Lösung finden, um die Anforderungen nach übergreifenden Lösungen befriedigen beziehungsweise die dafür notwendigen IT-Verantwortungen eindeutig regeln zu können. Der Konflikt zwischen den klassischen SAP CC und den Bereichen für Individualentwicklungen wird sich dabei in den nächsten Jahren deutlich verstärken. Der Ablösung kleinerer Systeme (z.B. Access) zugunsten von NetWeaver wird bald die Ablösung grösserer Systeme folgen, da in vielen Bereichen (z.B. AS400, Lotus Notes) der technische Lifecycle zu Ende geht. Bei der Migration dieser Applikationen auf eine neue, langfristig stabile technische Plattform wird NetWeaver immer häufiger in die engere Wahl kommen und somit zur Verschiebung von Verantwortlichkeiten innerhalb der IT beitragen.





Veränderung der Positionierung von SAP im Life Cycle Enterprise Services


Neue Verantwortlichkeiten

Neben diesen übergreifenden organisatorischen Aspekten auf Seiten der IT zeichnen sich aber auch Auswirkungen innerhalb der bestehenden SAP CC bei der Einführung von NetWeaver ab. Denn die klassische Ausrichtung des Portfolios nach R/3-Modulen im Bereich Projekte und Support wird bald überholt sein. Die SAP CC werden sich gezwungen sehen, ein neues Portfolio zu entwickeln, das den übergreifenden Anforderungen Rechnung trägt. SAP selbst forciert dies durch neue Lizenzmodelle, die nicht mehr Module, sondern Businessprozesse in das Zentrum ihrer Lizenzpolitik stellen. Der Kunde erwirbt danach nicht mehr Lizenzen für Module (MM, SD etc.) oder Solutions (z.B. CRM), sondern Lizenzen für ein Set von Services aus verschiedenen Applikationen (ECC, SRM, CRM etc.), die zur Unterstützung eines generischen Prozesses notwendig sind. Die bestehenden SLA (Service Level Agreements) zwischen Business und SAP CC werden daher neu definiert werden müssen, um dieser prozessorientierten Sichtweise gerecht werden zu können. Dadurch werden neue Verantwortlichkeiten notwendig, die die Betreuung (Planung, Entwicklung, Support) von Prozessen auf Basis von NetWeaver sicherstellen.




Letztendlich hat diese Ausrichtung auch einen entscheidenden Einfluss auf die Rekrutierung und Ausbildung der Mitarbeiter innerhalb der SAP CC. Auch hier ist die Modulorientierung nicht mehr hinreichend. Statt dessen werden Mitarbeiter auf verschiedene Module ausgebildet werden müssen. Zudem kann das Verständnis der darunterliegenden Technologie nicht mehr in die alleinige Verantwortung der Entwickler delegiert werden. Zumindest ein grundlegendes technisches Verständnis ist beim Design von IT-Lösungen auf Basis von SAP NetWeaver erforderlich, um die Potentiale vollständig nutzen zu können.





All dies zeigt, dass die Herausforderungen an Unternehmen zwar bereits heute mit verfügbaren technischen Lösungen wie SAP NetWeaver unterstützt werden können, dass deren Einsatz aber auch einen ganzheitlichen Ansatz erfordert, der sowohl Änderungen auf Seiten des Business als auch bei der IT und insbesondere innerhalb von SAP CC nach sich zieht. Ansätze dazu sind bereits in vielen Unternehmen vorhanden, eine konsequente Umsetzung wird aber auch nach Meinung führender Analysten nur in wenigen Firmen noch in diesem Jahrzehnt annähernd erreicht werden.


Der Autor

Lars Erdmann ist Diplomingenieur MBA und bei Esprit Consulting verantwortlich für den Bereich Technologieberatung.(www.esprit-consulting.com)




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